Wettinger Autorin: «Gegen Ausgrenzung wehre ich mich»

Monica Cantieni spricht über die Herausforderungen als freischaffende Schriftstellerin vor und während der Coronazeit und erklärt, warum ihr 2011 erschienener Bestseller «Grünschnabel» heute aktueller ist denn je.

Monica Cantieni arbeitet derzeit an einem neuen Roman. Sibylle Egloff
Monica Cantieni arbeitet derzeit an einem neuen Roman. Sibylle Egloff

 

 

 

«Wo ist denn die andere?», fragt sich Monica Cantieni, als sie um den Teich im Wettinger Klosterpark spaziert. «Normalerweise leben hier zwei Gänse, die mich stets vehement davon abhalten, die Karpfen zu füttern», sagt sie und lacht. Die Schriftstellerin wohnt einen Katzensprung entfernt von der Löwenscheune auf der Klosterhalbinsel. Dort ist auch ihr Roman «Grünschnabel» entstanden, mit dem sie nicht nur in der Schweiz, sondern weltweit Erfolge feierte. Im 2011 erschienenen Buch erzählt Cantieni die Geschichte eines Adoptivkinds, das in den 1970er-Jahren, in Zeiten der Überfremdungsinitiative von James Schwarzenbach, bei neuen Eltern im Immigrantenmilieu aufwächst. Mittlerweile liegt «Grünschnabel» in der vierten Auflage vor und wurde in sechs Sprachen übersetzt.

«Mein Roman ist heute brandaktuell. Ich glaube, 2011 war die Zeit für das Thema Fremdenfeindlichkeit noch nicht reif genug. In der Schweiz reagierte man in Diskussionsrunden bei Lesereisen zwar mit Lob auf die Sprache und die Kinderperspektive, jedoch widerwillig auf das Thema der Schwarzenbachinitiative», sagt Cantieni. Doch angesichts der bevorstehenden Begrenzungsinitiative der SVP, den Black-Lives-Matter-Protesten und 50 Jahre nach der Schwarzenbach-Abstimmung sei die Diskussion über Fremdenhass in der Schweiz wieder im Gange. Cantieni freut das. «Ich wehre mich gegen Ausgrenzung. 56 Prozent der Menschen in der Schweiz haben mindestens einen Elternteil mit Migrationshintergrund. Sie sind deswegen nicht Fremde, sondern alles Schweizer», sagt die 55-Jährige. Fremdenfeindlichkeit verzeichne erst seit 1910 eine steigende Tendenz. «Mit meinem Buch wollte ich dies aufzeigen, weil uns diese Haltung als Gesellschaft nicht hilft», sagt Cantieni.

In die Geschichte webte sie aber auch Persönliches ein. So zum Beispiel bereitet der Vater des Adoptivkindes im Buch die besten Wiener Schnitzel der Welt zu. «Diese Fähigkeit ist angelehnt an die Kochkünste meines Vaters, er war der beste Schnitzelmacher», erzählt Cantieni. Der Suizid einer guten Freundin und Schriftstellerkollegin verarbeitete sie mithilfe eines Dialogs zwischen einem Vater und einem Mädchen, die im Keller sitzen und über das Leben und den Tod reden. «Ich hätte eigentlich eine Literaturkritik für die Zeitung schreiben sollen, doch stattdessen entstand dieser Text. Die Figuren des Romans und die Ich-Perspektive, an die ich mich zuvor nie traute, waren geboren», sagt Cantieni.

Sie warf vier Bücher weg, bis sie zufrieden war

Zehn Jahre lang schrieb sie an ihrem ersten Roman. «Ich habe vier Bücher weggeworfen, bis die Geschichte so war, wie ich sie wollte. Ich bin sehr langsam, das ist mein Manko», sagt Cantieni. Doch der Aufwand lohnte sich. «2011 hat es ‹geklöpft›: Ich wurde nominiert für den Schweizer Buchpreis. Seagull Books, ein international renommierter Literaturverlag in Kalkutta, kaufte die Weltrechte. Ich tourte mit meinem Buch durch die Welt, unternahm Lesereisen nach Hongkong, Singapur, durch Indien, die USA und Europa.»

Zu der Zeit arbeitete Cantieni noch beim Schweizer Fernsehen (SRF) als Bereichsleiterin Multimedia. Für den Sender leitete sie zuvor überdies die Produktion des Formates Sternstunden. Zudem baute sie die Online-Plattform «Frischfilm» auf, die es Jungfilmern ermöglichte, sich einer breiten Öffentlichkeit im gesamten deutschsprachigen Raum zu präsentieren. Für die Plattform erhielt sie unter anderem 2010 den Grimme Online Award. «Das ist sozusagen der deutsche Online-Oscar», sagt Cantieni. Ihre erfolgreiche Karriere beim SRF gab sie 2017 auf, um sich vollständig auf ihre Arbeit als Autorin zu konzentrieren. «Das Schreiben ist der Beruf, der mich wirklich befriedigt, auch wenn ich weiss, dass das Schriftstellerdasein kein leichtes ist», sagt Cantieni. Nur die wenigsten könnten davon leben. Es sei stets ein Spagat: «Entweder ich habe freie Zeit zum Schreiben oder ich habe Geld. Das ist der Preis, den wir als Künstler für unseren Beruf zahlen.» Im Normalfall würde man diesen Umstand akzeptieren, doch die Coronapandemie verschärfe das Problem und zeige, wie ungleich verteilt die Unterstützung durch den Staat ist. «Ich habe Künstlerkollegen, die pro Tag eine Erwerbsersatzentschädigung von 2 Franken erhalten, weil sie im berücksichtigten Jahr 2018 eine Kreativphase hatten und kein Geld verdienten. Das kann doch nicht sein», findet Cantieni.

Der mediale Lohn eines Künstlers betrage pro Jahr etwa 40000 Franken, gleichzeitig erwirtschafte die Kreativbranche jährlich 22 Milliarden Franken. «Das sind knapp vier Prozent des Schweizer Bruttosozialprodukts. Das ist doppelt so viel wie der Anteil der Landwirtschaft. Und trotzdem werden wir sowie alle Solo-Selbständigen viel weniger bedacht. Der Staat ist da für die Banken, für die Swiss, die in deutschen Händen ist, aber nicht für uns Schweizerinnen und Schweizer.»

Sie fordert vom Bundesrat einen Fixbetrag für Kulturschaffende

Für Cantieni sei der Coronalockdown ein Desaster gewesen: «Alle meine Lesungen sind ausgefallen, die Workshops mit Schulklassen waren nicht mehr möglich. Viele Projekte und Verhandlungen wurden bis im Herbst sistiert.» Die Schriftstellerin lebe nun von ihrem Ersparten. «Der Bund hat sich nicht darangehalten, die Verletzlichen zu schützen. Wir Künstler und Kulturschaffenden gehören ganz klar dazu.» Cantieni gründete mit befreundeten Künstlern die Facebook-Gruppe «Culture Cats & Friends». In einem offenen Brief an den Bundesrat machen sie ihn auf die Systemrelevanz der Kultur aufmerksam und fordern einen Fixbetrag von 2300 Franken pro Monat für Kulturschaffende und Solo-Selbstständige für mindestens sechs Monate. «Denn die Entscheidung des Bundesrates vom 1. Juli, die Unterstützung weiterzuführen, heisst einzig, dass diejenigen, welche viel Geld erhielten, weiterhin viel bekommen und diejenigen, die bereits wenig erhielten, weiterhin wenig oder nichts bekommen.»

Cantieni adressierte ebenso einen persönlichen Brief an Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga. «Sie versprach, an der Pressekonferenz am 29. April etwas zur Kultur zu sagen. Schliesslich ging es dann aber nur darum, wann Museen und Bibliotheken wieder öffnen dürfen. Für uns Künstler war das enttäuschend, ja fast ein Affront.» Der Brief ist Teil von Cantienis Coronatagebuch, das sie für das Literaturhaus Lenzburg geschrieben hat. Am 4. September feiert dort das daraus entstandene Buch «Schwellenzeit», bei dem auch Dorothee Elmiger und Peter Stamm mitgeschrieben haben, Premiere.

Auch wenn die Zeiten für Schriftsteller noch nie so hart waren, denkt Cantieni nicht ans Aufhören. «Ich bleibe dabei, es ist ein mehr denn je sinnvoller Beruf. Wenn mir Sätze und Geschichten gelingen, die unsere Gesellschaft reflektieren können, freut mich das.» Vielleicht erwächst aus der Coronakrise auch etwas Gutes: Cantieni arbeitet an einem neuen Roman. «Die Geschichte handelt von einem Pfleger und einem Behinderten und um die Frage, wer sich um Letzteren nach dem Ableben der Mutter kümmert. Die Verwerfungen, die sichtbar werden, offenbaren die blinden Flecken in Familien, die zugleich gesellschaftliche Tabus sind.»

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