Versorgungssicherheit sinkt und der Strompreis steigt
Ende August kommuniziert die Energie Wettingen AG die Stromtarife 2023. Im Interview sagt Geschäftsführer Guido Hüni, dass von einer Preiserhöhung von mindestens 55 Prozent auszugehen ist, warum der Strom knapp und teuerer wird und warum er im Winter Verbrauchseinschränkungen nicht ausschliesst.

Der Strom wird knapp und der Preis steigt weiter und weiter. Haben Sie jemals mit einer solchen Entwicklung gerechnet? Nein, eine solche Preisexplosion hat es noch nie gegeben und es war bisher quasi unvorstellbar, dass es dazu kommt. Wenn man sich am Markt jetzt fürs Jahr 2023 eindecken will, bezahlt man 560 Franken pro Megawattstunde, beim Tiefstand Anfang 2016 waren es ungefähr 20 Franken. Das ist selbst gegenüber dem vorherigen Höchststand im Jahr 2009 mit rund 90 Franken ein Vielfaches und zwingt uns zu einer massiven Strompreisanpassung. Die Energie Wettingen wird dieses Jahr höchstwahrscheinlich einen Verlust ausweisen.
Warum? Weil die Beschaffungspreise im letzten Herbst, nachdem wir die Tarife für 2022 kommuniziert hatten, noch viel stärker gestiegen sind, als wir dies in unserer Beschaffung berücksichtigt haben. Deshalb zahlen wir jetzt auf jede verkaufte Kilowattstunde drauf.
Jetzt legt die Energie Wettingen AG die Tarife fürs 2023 fest. Mit welcher Teuerung muss der Endverbraucher rechnen? Wir beschaffen den Strom für unsere Kunden an der Börse in mehreren Tranchen und können die Preise zu einem gewissen Grad glätten. Trotzdem sind wir leider gezwungen, eine Preisanpassung von mindestens 55 Prozent zu erheben, abhängig vom Verbrauchsprofil. Am 31. August werden die genauen Tarife aufgeschaltet.
Was sind die Gründe für diese massive Steigerung der Stromkosten? Die Stromkosten setzen sich aus dem Energietarif, dem Netznutzungstarif sowie Abgaben und Leistungen zusammen. Die Preisexplosion entstand beim Energietarif. Das ist der physikalische Strom, der an der Börse gehandelt wird. Der Preis wird beeinflusst durch die Gas-, Kohle-, Öl- und Co2-Kosten der jeweiligen Kraftwerke. Der Strompreis wird an der Börse anhand des Merit-Order-Modells festgelegt: Das teuerste Kraftwerk, das gebraucht wird, um die Nachfrage zu decken, bestimmt den Preis, den sämtliche Stromerzeuger bekommen – und das sind Gaskraftwerke. Der Gaspreis hat sich in den letzten Monaten verzwanzigfacht.
Warum? Im Winter 2020/2021 wurden die Gasspeicher fast vollständig geleert; die Konjunkturerholung nach der Coronapandemie führte zu einer erhöhten Nachfrage nach Gas; mit dem Krieg in der Ukraine hat Russland seine Gaslieferung ins Ausland reduziert, aufgrund von Sicherheitsbedenken bei den französischen Kernreaktoren ist unklar, wie viel Strom Frankreich im Winter exportieren wird. Das alles führt zu grosser Verunsicherung, was sich letztlich im Preis reflektiert.
War das nicht voraussehbar? Nein, diese kurzfristigen Preisexzesse nicht.
Wie abhängig ist die Schweiz vom Ausland? Sie ist im Winter auf Stromimporte angewiesen und hat 41 grenzüberschreitende Netzleitungen mit Nachbarländern. Das sind so viele wie kein anderes Land. Die Schweiz hat trotzdem ein Problem: Sie kann kein Stromabkommen mit der EU abschliessen, weil sie das dafür notwendige Rahmenabkommen sistiert hat. Deshalb ist sie auch nicht in Gremien vertreten und nicht informiert, was in Nachbarländern passiert. Dadurch steigen die Herausforderungen für die nationale Netzgesellschaft Swissgrid und das Risiko von Netzstörungen. Ich glaube, zum Zeitpunkt der Sistierung war vielen nicht bewusst, wie essenziell das Stromabkommen für eine sichere Stromversorgung ist.
Wie meinen Sie das? Meiner Meinung nach kommt die grösste Gefahr von Versorgungsengpässen erst noch. Die EU verlangt von den Mitgliedstaaten spätestens 2025, dass sie mindestens 70 Prozent der Kapazität grenzüberschreitend für den Stromhandel zur Verfügung stellen.Das kann sie einfacher erfüllen, wenn sie Drittstaaten wie der Schweiz weniger Strom liefert.
Sollte die Schweiz versuchen, sich stärker selbst zu versorgen? Mit der Energiestrategie 2050 ist dies bereits in der Umsetzung. Ein Problem dabei ist, dass viele Kraftwerks- und Netzleitungsprojekte durch Einsprachen verhindert oder jahrelang verzögert werden. Auch in anderen Ländern wie beispielsweise Deutschland kommt der Netzausbau nur schleppend voran.
Wie wichtig ist die Umsetzung dieser Energiestrategie? Sehr wichtig. Nur mit einer konsequenten Umsetzung kann man langfristig das Risiko eines Strommangel oder eines Blackouts minimieren. Ein Blackout ist eine Überlastung des Netzes, die zur Abschaltung führt. Davon wären mehrere Länder betroffen. Der letzte grosse Stromausfall in Zentraleuropa war im Jahr 2006. Dieser Stromunterbruch kann mehrere Stunden dauern. Im Unterschied zu einem Blackout ist Strom in einer Strommangellage verfügbar, allerdings in reduziertem Mass.
Was passiert, wenn das eintritt und der Strombedarf diesen Winter nicht vollständig gedeckt werden kann? Ähnlich wie in der Pandemie ist es dann Aufgabe des Bundes als Krisenmanager, Massnahmen zu ergreifen. Dafür wurde die Organisation Stromversorgung in ausserordentlichen Lagen (Ostral), die der Landesversorgung des Bundes untersteht, gegründet. Ostral, zu der Energie Wettingen auch gehört, setzt im Falle einer Strommangellage Massnahmen um, welche der Bundesrat beschlossen hat. Grossverbraucher in unserem Netzgebiet wurden bereits letztes Jahr angeschrieben, damit sie sich auf eine allfällige Strommangellage vorbereiten können. Dazu wurde auch ein entsprechender Stromratgeber zur Verfügung gestellt. Bei einer absehbaren Strommangellage würden vom Bundesrat auch Massnahmen erlassen, welche auch die gesamte Bevölkerung betreffen würden.
An welche Art von Massnahmen denken Sie? Der Bundesrat würde Verbote und Verbrauchseinschränkungen aussprechen in Bereichen, die nicht die Grundversorgung betreffen. Zum Beispiel eine vorübergehende Schliessung von Hallenbädern, Beleuchtungsanlagen, das Abstellen von Skiliften etc. sind bei einem akuten Strommangel denkbar. Ebenso wie Einschränkungen im privaten Bereich, dass beispielsweise keine nicht notwendigen Geräte wie Whirlpool, Klimaanlage, Saunas etc. benutzt werden dürfen. Es können auch Kontingentierungen für Grossversorger ausgesprochen werden. Letztlich sogar zyklische Abschaltungen von Dörfern, Regionen.
Rechnen Sie damit, dass solche Szenarien eintreten? Ich persönlich rechne nicht damit, dass es zu zyklischen Stromabschaltungen von ganzen Dörfern und Regionen kommen wird. Falls allerdings die Gasknappheit in den kommenden Monaten zunehmen sollte, die Trockenperiode anhält und die Stauseen im Herbst nicht weiter gefüllt werden, die Mehrheit der französischen Reaktoren vom Netz genommen werden und der Winter im Vergleich zu anderen Jahren wind- und sonnenenergiearm wird, dann ist es tatsächlich möglich, dass der Bund Massnahmen, Verbote und Verbrauchseinschränkungen aussprechen muss.
Was raten Sie Privaten und Unternehmen schon jetzt, um Strom zu sparen? Unternehmen müssten die Prozesse anpassen, was abhängig von der Branche jedoch durchaus einen grossen Kraftakt bedeuten kann. Im Privatbereich wäre es hingegen relativ einfach, 10 bis 20 Prozent des Stromverbrauchs zu reduzieren. Beispielsweise, indem das Licht konsequent gelöscht wird, beim Kochen ein Pfannendeckel benutzt wird oder eine Minute weniger lang warm geduscht wird, wenn das Warmwasser mit dem Boiler aufgeheizt wird. Erfahrungsgemäss tun wir uns allerdings schwer, lieb gewonnene Gewohnheiten zu ändern. Dabei sind wir als Gesellschaft bei der Menge der Energienutzung, also dem gesamten Verbrauch, immer noch weit entfernt von einer nachhaltigen Lebensweise. Der ökologische Fussabdruck der Schweiz, also wie viel Ressourcen eine Gesellschaft mit ihrem Lebensstandard verbraucht, ist riesig: Wenn alle wie die Schweizer Bevölkerung leben würden, wäre beinahe dreimal die Erde erforderlich, um den Bedarf der Ressourcen zu decken. Der Energiekonsum, insbesondere der Verbrauch fossiler Energie, macht fast drei Viertel des ökologischen Fussabdruckes aus. Ein Beispiel, das dies verdeutlicht, ist unser Wohnverhalten: Pro Person brauchen wir durchschnittlich 46 Quadratmeter Wohnfläche. Wenn diese Fläche so beheizt wird, dass wir sogar bei Minustemperaturen im Haus ein T-Shirt tragen können und warm haben, ist das Ressourcenverschwendung. Dass das in der Schweiz Usus ist, zeigt, dass Energie in der Vergangenheit letztlich viel zu günstig war.
Wenn wir aufgrund des Energiemangels nun zum Umdenken gezwungen werden, hätte das immerhin einen positiven Effekt auf den Klimawandel … Grundsätzlich ja, obwohl aktuell eher das Gegenteil der Fall ist und aufgrund der hohen Gaspreise wieder vermehrt dreckige Kohlekraftwerke ans Netz gehen.
Gehen Sie davon aus, dass die steigenden Preise dazu animieren, den Energieverbrauch zu senken? Leider funktioniert der Mensch meist so, dass eine Verhaltensänderung letztlich nur übers Geld geht. Solange wir es uns finanziell leisten können, ändert sich nichts. Bisher war es selbstverständlich, dass Energie günstig ist und immer zur Verfügung steht. Davon sollten wir uns verabschieden. Und das wirkt sich hoffentlich positiv auf den Klimawandel aus.
Sie sprechen am Werkhof-Talk des Handels- und Gewerbeverbands vor regionalen Unternehmern. Was werden Sie ihnen mit auf den Weg geben? Ich möchte den Unternehmerinnen und Unternehmern bewusst machen, dass wir nach wie vor eine der sichersten Stromversorgung der Welt haben und eine Strommangellage unwahrscheinlich ist. Und dass es trotzdem besser ist, sich auf ein Problem vorzubereiten, welches vielleicht nie eintritt, als dass dieses Problem eintritt und man nicht darauf vorbereitet ist.
Guido Hüni referiert amHGV-Werkhof-Talk für Gewerbetreibende: Mittwoch, 24. August, 18.30 Start, Anmeldung bis 20.8. unter www.hgvw.ch.