«Sperber» richten ihr Augenmerk auf die Linde

Früher war es üblich, durch die Pflanzung einer Linde das Gebäude vor Blitzschlag zu schützen. Auf dem Bahnhofareal in Wettingen soll die Linde nun einem Neubauprojekt weichen.

Der nach einem Mitwirkungsverfahren rechtsgültige Gestaltungsplan sieht vor, dass sich das Gebiet des Bahnhofareals in den kommenden Jahren nachhaltig verändern wird. Das Ziel besteht darin, das mehrheitlich gewerblich genutzte, über 50000 m2 grosse Areal zwischen den Gleisanlagen und der Güter- und Seminarstrasse in ein durchmischtes Wohn- und Gewerbequartier zu entwickeln. Aus dem anschliessenden Architekturwettbewerb ging das Badener Architekturbüro Burkard Meyer mit dem Projekt «Stadtlaube» als Sieger hervor. Die langgezogenen, fünfstöckigen Gebäude westlich des Bahnhofs bilden dabei einen Abschluss gegenüber dem Gleisfeld und schaffen damit Wohn- und Aufenthaltsqualität an zentraler Lage. Geplant sind nebst Gewerbeflächen rund 110 Wohnungen mit privaten Aussenbereichen und Dachterrassen.

Die Linde gilt es zu erhalten

Die Klimaerwärmung hat die Situation seit 2018 markant verändert. Bäume, Biodiversität und eine menschenfreundliche Umgebung haben akute Dringlichkeit erhalten. Diese Entwicklung ist ein triftiger Grund, die Sache nochmals zu überdenken: Die Gemeinde nahm das Thema auf und lud die Bevölkerung im vergangenen September unter Beizug namhafter Referentinnen und Referenten zu einer Veranstaltung ein, an der die Frage diskutiert wurde, wie eine hitzeangepasste und begegnungsfreundliche Siedlungs- und Freiraumentwicklung in Wettingen gelingen kann. Auf diese Frage wurde eine Antwort laut: durch die Erhaltung dieser Linde und ihres Freiraums.

Bereits im Rahmen der öffentlichen Mitwirkung von 2018 wurde durch Anwohnende des Bahnhofareals der Erhalt der über 100-jährigen, 27 Meter hohen Linde und damit auch der rund 1000 m2 grossen Oase am westlichen Ende des Baufeldes gefordert. Auf dem Gestaltungsplan existieren diese Linde und diese Oase nun aber nicht mehr. Im November 2022 hat die siebenköpfige Gruppe «Sperber» das Anliegen aufgenommen und der SBB Immobilien Development Anlageobjekte Ost die Erhaltung der Linde samt der umgebenden Oase nahegelegt.

Wer sind die «Sperber»?

Bei den «Sperbern» handelt es sich um in Wettingen wohnhafte, bekannte Personen. Nebst alt Einwohnerrätin Marie-Louise Reinert, Landschaftsarchitekt Peter Paul Stöckli und ETH-Architekt William Steinmann, Carmen Sidler, Bildhauer Cesco Peter gehört auch Heidi Haag, Raumplanerin MAS ETH, der Gruppe an. «Die Verantwortlichen seitens der SBB zeigten viel Verständnis für das Anliegen, gaben aber dennoch eine abschlägige Antwort. Die Fläche werde für das Neubauprojekt benötigt», so Marie- Louise Reinert anlässlich einer Medieninformation.

Linde ist unverzichtbar

Lobend erwähnte William Steinmann die Bestrebungen der Gemeinde, die es geschafft hat, alle Grundeigentümer von einer gemeinsamen Weiterentwicklung des Areals zu überzeugen. Da bekanntlich die geschützten Objekte Lokremise, Güterschuppen, Bahnhofgebäude und Drehscheibe als historische Zeitzeugen erhalten bleiben, ist es für Steinmann unverständlich, dass dem Image «Gartenstadt» im Gestaltungsplan nicht nachgelebt wurde und die Oase mit der Linde nicht als schützenswert aufgenommen wurde. Steinmann ist auch überzeugt, dass durch die Erhaltung des Baumes und der Oase und eine bescheidene Reduktion der geplanten Wohnungen das Projekt zu einem Vorzeigebeispiel hinsichtlich angemessener und rücksichtsvoller Verdichtung werden kann. Wann und aus welchem Anlass die Linde gepflanzt wurde, konnte auch Landschaftsarchitekt Peter Paul Stöckli nicht in Erfahrung bringen. Dass der mächtige Baum und der Park aber hinsichtlich Luftaustausch, Fauna und Flora, Verdunstung und der Schaffung sozialer Kontakte unverzichtbar seien, brachte er klar zum Ausdruck.

Ökologischer und ökonomischer Wert

Carmen Sidler verweist auf den sozialen Wert des durch einen Künstler angemieteten, aber öffentlich zugänglichen Parks, der soziale Kontakte ermöglicht. «Ich kenne in der Umgebung keinen Park, wo man so unkompliziert verweilen kann», so Sidler. Heidi Haag spricht den ökologischen Wert der Linde an. «Sie ist ein wichtiger Sauerstoffspender und Luftreiniger, reduziert den Wärmeinseleffekt an diesem Hitzehotspot und trägt wesentlich zu einem besseren Mikroklima im Siedlungsgebiet bei. Durch Verdunstung kühlt sie das Quartier und spendet Schatten an heissen Sommertagen. Auf der aktuellen Klimakarte des Kantons ist ihre Wirkung sichtbar. Sie produziert Sauerstoff und bindet CO2 für das eigene Wachstum. Und es gibt sie schon – auf Ersatz müsste man ja hundert Jahre warten. Die «Sperber», so war zu vernehmen, werden das Gesprächsangebot der SBB wahrnehmen, und so darf man auf den Ausgang gespannt sein.

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