«Es fällt vielen Menschen schwer, Hilfe anzunehmen»

Trotz vieler Freiwilliger wird die Nachbarschaftshilfe zu wenig in Anspruch genommen. Die Geschichte von Carmen Müller und Ruth Merkli zeigt, wie wertvoll der Dienst am Nächsten ist.

Freuen sich jedes Mal auf ihre Zusammenkunft: Ruth Merkli (l.) und Carmen Müller.Foto: se
Freuen sich jedes Mal auf ihre Zusammenkunft: Ruth Merkli (l.) und Carmen Müller.Foto: se

Ganz vertraut sitzen Ruth Merkli und Carmen Müller in einem Café und erzählen sich die neusten Geschichten aus ihrem Leben. Es scheint, als würden die beiden Damen sich schon lange kennen. Tatsächlich treffen sich die 74-jährige Ruth Merkli und die 55-jährige Carmen Müller erst seit gut einem Jahr. Wenn die beiden zusammenkommen, gehen sie einen Kaffee trinken oder besuchen Kunstausstellungen. Die Frauen schätzen die Begegnungen und den Austausch sehr. «Es ist für mich eine sehr grosse Bereicherung», sagt Merkli. Auch Müller schwärmt von den Gesprächen mit der 74-Jährigen: «Frau Merkli ist eine so interessante, positive und kluge Person, die mich immer wieder überrascht.»

Die Gespräche und Treffen der beiden Frauen finden im Rahmen der Nachbarschaftshilfe des Nachbarschaftsnetz statt. Vor etwas mehr als zwei Jahren las Müller auf einem Flyer davon und war von der Idee begeistert. Obwohl die 55-Jährige in Wohlenschwil und nicht in Wettingen wohnt, meldete sie sich bei der Quartiervermittlungsstelle Langenstein-Altenburg für Besuchsdienste an. «Ich arbeite in der Altenburg Apotheke und fühle mich dadurch heimisch in der Nachbarschaft», begründet Müller ihren Entschluss. Frisch nach der Anmeldung dachte die Apothekerin, dass sie sich vor Anfragen nicht retten könne. Doch genau das Gegenteil war der Fall. Ein Jahr lang hörte Müller gar nichts. Dann erhielt die gebürtige Deutsche die Nachricht, dass eine ältere Dame, die viel alleine sei, sich über Besuche freuen würde. Es war Ruth Merkli. «Am Seniorennachmittag am Wettinger Fest habe ich von dem Angebot erfahren und gefunden, dass es mir guttun würde, rauszukommen, andere Menschen um mich zu haben und mit ihnen zu sprechen», sagt Merkli.

Es sei jedes Mal eine Freude für sie, Frau Müller zu treffen, so die 74-jährige Wettingerin. In den Gesprächen blüht die fröhliche Seniorin, die aufgrund der Spätfolgen einer Kinderlähmung immer mehr auf den Rollstuhl angewiesen ist, richtig auf. Sie erzählt von ihrer Kindheit, ihrer Reise zur Seidenstrasse, ihren sprechenden Graupapageien und ihren gesundheitlichen Schwierigkeiten. Müller lauscht fasziniert den Geschichten und berichtet selbst von den eigenen Ferien und erinnert Merkli an die vergangenen Treffen und gemeinsamen Ausstellungsbesuche. Beide betonen, dass die Begegnungen keine Pflichtveranstaltungen seien, sondern auf Gegenseitigkeit beruhen und es ein Geben und Nehmen sei. Für Merkli ist die Nachbarschaftshilfe bedeutsam. «Es verlängert meine Zeit, die ich zu Hause in meinen vier Wänden verbringen kann.»

Die Beziehung von Merkli und Müller zeigt, wie viele Vorteile und Freude der freiwillige Einsatz für die Beteiligten bereithält. Trotz der positiven Folgen für beide Seiten werde das Angebot laut Müller zu wenig genutzt. «Es gibt genug Freiwillige, aber zu wenige, die sich fallen lassen und Hilfe von anderen annehmen», sagt Müller. Das Problem sei, dass man sich eingestehen müsse, dass man beispielsweise beim Rasenmähen Hilfe benötige. Für viele Menschen sei es schwierig, den Nachbarn ins eigene Reich zu lassen. Hinzu komme auch, dass die Nachbarschaftshilfe, die neben Besuchsdiensten auch Kinder-, Hausaufgabenbetreuung, Begleitdienste bei Arztbesuchen, Hilfe bei Einkäufen, beim Hausputz oder dem Wässern von Pflanzen bei Ferienabwesenheit beinhalten kann, Konkurrenz habe, so Müller. Es gebe kirchliche Organisationen, Spitex und Pro Senectute, die solche Hilfe ebenso anbieten würden. Der Kostenpunkt sollte die Menschen auch von der Freiwilligenarbeit überzeugen, meint Müller. «Die Pro Senectute stellt beispielsweise Arbeiten wie das Rasenmähen in Rechnung. Die Nachbarschaftshilfe ist gratis.»

Müller sieht aber auch Nachholbedarf bei den Freiwilligen. Es gebe so viele fitte Rentner, die wenig zu tun haben. «Es wäre schön, wenn diese sich überlegen würden, was sie machen oder wie sie helfen könnten», sagt die Apothekerin. Zudem wüssten sehr wenige, dass es dieses Angebot in Wettingen gebe. Zwar würde auf Flyern und an Senioren-Veranstaltungen darauf aufmerksam gemacht, trotzdem reiche dies nicht, so Müller. «Die Umsetzung muss konkreter werden und rechtliche Fragen müssen geklärt werden. So beispielsweise, was geschieht, wenn ein Freiwilliger beim Hausputz oder Rasenmähen etwas kaputt macht», findet Müller.

Merkli und Müller werden sich weiterhin treffen und vom gegenseitigen Austausch profitieren. «Es wäre toll, wenn ich noch jemanden hätte, der ab und zu mit mir kochen und essen würde», wünscht sich Merkli für die Zukunft.

Interessierte freiwillige Helfer oder Personen, die Unterstützung brauchen, melden sich bei der Leiterin der Altersstelle für Altersfragen und Freiwilligenarbeit, Lilo Jud, Tel. 056 437 74 80 oder lilo.jud@wettingen.ch.

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