«Ich werde täglich gefragt, wieso abgestimmt werden muss»

Roland Kuster (Die Mitte CVP) stellt sich nochmals zur Wahl als Gemeindeammann. Warum er den zweiten Wahlgang alles andere als einfach findet und wo er Selbstkritik übt, sagt er im Interview.

Roland Kuster (62), seit 2017 Gemeindeammann, zuvor 9 Jahre Gemeinderat, stellt sich nochmals zur Wahl. Im Bild an der Podiumsdiskussion anlässlich der Präsentation des Räumlichen Entwicklungsleitbilds (REL) am Montag im Tägi. (Bild: Alexander Wa
Roland Kuster (62), seit 2017 Gemeindeammann, zuvor 9 Jahre Gemeinderat, stellt sich nochmals zur Wahl. Im Bild an der Podiumsdiskussion anlässlich der Präsentation des Räumlichen Entwicklungsleitbilds (REL) am Montag im Tägi. (Bild: Alexander Wagner)

Aus gesundheitlichen Gründen hat sich Ihr Herausforderer Andrea Bova aus dem Wahlkampf zurückgezogen. Sie haben nun freies Feld. Wie beurteilen Sie die neue Ausgangslage?Roland Kuster:Sie ist alles andere als einfach. Ich bin nach wie vor erschüttert von der persönlichen Situation von Herrn Bova. Unter diesen Voraussetzungen den Wahlkampf zu starten, ist sehr schwierig. Hinzu kommt, dass auf dem Wahlzettel weiterhin beide Namen stehen. Es braucht viel Kommunikationsgeschick, dem Bürger zu vermitteln, dass er jetzt keine Auswahl mehr hat, sondern nur einen Vorschlag. Ich werde täglich gefragt, wieso trotzdem abgestimmt werden muss. Es stösst bei vielen auf Unverständnis, dass die Wahl von Gesetzes wegen trotzdem nötig ist. Ich würde mir das auch anders wünschen, doch das kantonale Gesetz über die politischen Rechte samt Verordnung schreibt es so vor. Im Gegensatz zum ersten Wahlkampf können jetzt auch die anderen Gemeinderäte nicht mehr gewählt werden, weil sie nicht kandidiert haben.

Der erste Wahlgang verlief nicht so, wie Sie es sich gewünscht haben. Sie zogen mit der tiefsten Stimmenzahl in den Gemeinderat ein und verpassten als Gemeindeammann das absolute Mehr. Hat das wehgetan und ziehen Sie konkrete Konsequenzen daraus? Selbstverständlich tat das weh. Es ist ein menschlicher Zug, auf Anerkennung und Wertschätzung für die geleistete Arbeit zu hoffen und darauf, das Vertrauen für das künftige Schaffen zu spüren. Konkrete Konsequenzen aus diesem Wahlresultat zu ziehen, ist allerdings schwierig, weil ich nur mutmassen kann, was der Grund dafür war.

Was mutmassen Sie?Ich vermute, dass ich für einen Teil der Wähler die Gemeindeverwaltung personifiziere und sie mich dafür verantwortlich machen, was nicht gut funktioniert. Beispielsweise für das Scheitern der Bezirksschulhausvorlage oder dass der Gemeinderat die Coronademonstration nicht stattfinden liess. Bei Themen wie der Limmattalbahn oder dem räumlichen Entwicklungsleitbild kann man dafür oder dagegen sein. Persönlich bin ich nicht der Auffassung, dass wir eine grundlegende Richtungsänderung machen können oder sollen. Der Gemeinderat ist dem Einwohnerrat und der Bevölkerung verpflichtet. Ein Gemeindeammann ist ja auch kein Alleinherrscher, der alles selbst bestimmt und umsetzt, sondern ist Teil des politischen Systems. Er kann nicht Einzelwünsche in die Hand nehmen und umsetzen, sondern versuchen, ein Gemeindeammann für alle zu sein. Ich will für alle einstehen. Da die Balance zu finden, ist die grosse Herausforderung.

Es gibt auch Stimmen, die Ihre Kommunikation kritisieren. Können Sie das nachvollziehen? Absolut. Ich bekomme manchmal die Rückmeldung, ich sei zu direkt, zu klar in der Meinung. Manche sagen auch, ich sei ein Militärkopf. Meine Militärzeit ist zwar schon lange her, hingegen ist es wahr, dass ich unternehmerisch orientiert bin, eine klare Haltung gewissen Dingen gegenüber habe und will, dass auch Entscheide gefällt werden. Dass ich mit dieser Art auch mal jemanden brüskiere, ist mir bewusst. Andererseits bekomme ich auch die positive Rückmeldung, dass man bei mir weiss, woran man ist. Ich weiss, dass ich Ecken und Kanten habe, doch ich kann nicht aus meiner Haut und will authentisch bleiben. Und ich überlege mir beim Entscheiden auch nicht, ob ich damit Wählerstimmen gewinne, sondern fälle sachliche und langfristige Entscheide. Ich werde den Leuten nicht nach dem Mund reden, nur um gewählt zu werden. Es wäre unglaubwürdig, von Wahl zu Wahl eine Kursanpassung zu machen.

Haben Sie, hat der Gemeinderat irgendwo Verbesserungspotenzial?Absolut. Die Verwaltung erbringt jeden Tag gute Leistung. Nach dem Prinzip «Tue Gutes und sprich darüber» müssen wir noch aktiver aus dem Rathaus berichten und unsere Beweggründe besser darlegen. Bei dieser Kommunikation haben wir noch Potenzial nach oben. Ein kleines Beispiel ist das Infobüchlein zur aktuellen Budgetabstimmung. Hier haben wir diesmal kürzere Texte abgedruckt. Zudem haben wir sie mit Grafiken aufgelockert und so hoffentlich die Lesbarkeit und das Verständnis verbessert. Weiter dürfen wir den Digitalisierungstrend nicht verschlafen. Der Zugang ins Rathaus muss für den Bürger vereinfacht werden.

Beim Thema Finanzen dürfte Herr Bova auch Wähler gewonnen haben. Braucht es auch da eine Richtungsänderung?Ich bin nicht der Auffassung, dass wir eine grundlegende Richtungsänderung machen können oder sollen. Die Verschuldungsthematik ist dem Gemeinderat bewusst und er nimmt sie nicht auf die leichte Schulter. Mit der angestrebten Steuerfusserhöhung wollten wir die Schulden reduzieren. Die Mehrheit des Stimmvolks hatte eine andere Meinung, weshalb wir nun Alternativen suchen. Mit reiner Kostenreduktion ist das nicht möglich. Wir müssen nun neue Schritte einleiten, um diese Verschuldung zu senken, damit sie nicht der nächsten Generation aufgebürdet wird. Dem Schuldenabbau gegenüber stehen Bürgeranliegen wie der Ausbau der Kinderbetreuung, Unterstützung von Verein-, Sport- und Kulturangeboten oder der Erhalt von Grünflächen. Die Anliegen zum Sparen und Investieren sind teilweise widersprüchlich, für die Umsetzung braucht es Mehrheiten.

Auch was das Gemeindewachstum betrifft, scheiden sich die Geister. Haben Sie dafür eine Lösung? Wir planen nicht für 27000 Einwohner, sondern müssen dem Kanton aufzeigen können, wie wir dieses Wachstum in der Siedlung auffangen können, falls es so kommt, wie der Kanton in seinen Prognosen annimmt. Im kantonalen Richtplan wurde Wettingen als Wohnentwicklungsschwerpunkt definiert. Wir müssen realistisch sein: Wettingen ist keine Insel für sich, sondern Teil der fünftgrössten Wachstumsregion in der Schweiz. Wenn das Wachstum kommt, können wir es nicht aufhalten, sondern lediglich vorsorgen, dass es ein qualitatives Wachstum sein wird.

Wie? Indem wir das Wachstum steuern, damit Freiräume, Kulturland, Naturlandschaften und Grünflächen innerhalb der Siedlung erhalten bleiben. Deshalb planen wir nicht kurzfristig, sondern zwei bis drei Planungsgenerationen voraus. Wir haben das Regionale Entwicklungsleitbild (REL) erstellt, das wir am Montag der Bevölkerung präsentiert haben. Das REL zeigt auf, wie wir in den nächsten 15 Jahren dafür sorgen können, dass Wettingen qualitativ gestaltet wird. Dabei spielt die Allgemeine Nutzungsplanung zusammen mit der Bau- und Nutzungsordnung (BNO) eine zentrale Rolle. Diese muss in der kommenden Legislatur zwingend unter Dach und Fach gebracht werden, damit die Grundeigentümer Sicherheit bekommen, was auf ihren Grundstücken möglich ist und was nicht.

In diesem Zusammenhang ist auch die Erreichbarkeit wichtig. Sie sagen, die Nähe zur A1 soll nicht Risiko, sondern Chance sein. Spricht das für die Limmattalbahn? Wenn wir davon ausgehen, dass das Limmattal im Jahr 2035 ein Drittel mehr Arbeitsplätze und ein Viertel mehr Einwohner hat, produziert das mehr Verkehr und die Autobahn wird voll sein. Deshalb braucht es einen Mobilitätsmix mit zusätzlichen öffentlichen Verkehrsmitteln. Ob dabei das Tram der Limmattalbahn sinnvoll ist, wird sich zeigen, wenn die Analyse gemacht ist. Jetzt geht es erst darum, das Trassee zu sichern. Wenn wir heute nicht daran denken, was morgen sein könnte, werden grosse Verkehrsinfrastrukturvorhaben nicht mehr realisierbar sein. Dazu werden auch Busvorläufe geprüft. Sollte in der oberen Geisswies die geforderte Gewerbezone realisiert werden, müssen die neuen Arbeitsplätze auch mit öffentlichem Verkehr erschlossen werden.

Der Verkehr hört wie viele andere Themen nicht an der Gemeindegrenze auf, sondern muss auch regional gelöst werden. Wo soll oder muss Wettingen mit den Nachbarn zusammenarbeiten? Wo ganz eigenständig bleiben? Aufgrund seiner Grösse muss sich Wettingen auf Verwaltungsebene nicht mit anderen zusammenlegen. Das heisst aber nicht, dass wir gewisse Themen nicht miteinander angehen müssen. Die ganzen regionalen Planungen beispielsweise müssen abgestimmt werden. Wenn Baden beispielsweise einen Tunnel als Umfahrung der Innenstadt realisiert, hat das auch eine Wirkung auf uns. Es geht gar nicht anders, als dass wir uns zusammensetzen und uns aufeinander abstimmen. Das betrifft nicht nur Verkehr und Bau, sondern auch Kultur, Sport, Schule, Polizei, Zivilschutz und andere Bereiche. Als grösste Gemeinde führen wir Kooperationen in den verschiedensten Bereichen mit den Nachbargemeinden. Fusionen sind in Wettingen hingegen nicht opportun.

Sie nehmen neben dem Amt als Gemeindeammann zusätzlich zahlreiche weitere Funktionen wie etwa als Grossrat oder als Präsident der Baden Regio wahr. Haben Sie genügend Zeit für Ihr Hauptamt und kann es nicht zu Interessenskonflikten führen? Es gibt keine Interessenskonflikte, im Gegenteil. Das dadurch geschaffene Netzwerk hilft dabei, die Position und das Bedürfnis von Wettingen in wichtigen Gremien einzubringen. Es ist wichtig, unsere Stimme markant zu äussern. Die direkte Zugänglichkeit in die kantonale Verwaltung ist ebenso dringend notwendig. Dadurch ist es möglich, Anliegen direkt zu deponieren, direkte Ansprechpartner zu haben und sich abzustimmen.

Sie verfügen über langjährige Erfahrung in der Privatwirtschaft, als selbstständiger Berater, aber auch als Kadermitarbeiter der SBB und waren ein hoher Milizoffizier der Schweizer Armee. Welche Erfahrungen waren für Sie prägend, die Sie heute in der Führung der Gemeinde einbringen können? Das unternehmerische Fachwissen. Dadurch kann ich die richtigen Fragen stellen und aufgrund der Antworten das Richtige tun. Das sind Fähigkeiten, die ich in der Armee und vor allem in der Führung von grossen Unternehmen gelernt habe. Seit 40 Jahren führe ich Menschen. Dieser Erfahrungswert ist eminent wichtig. Vor allem in einer Verwaltung mit derart unterschiedlichen Funktionen. Jedes Gebiet in der Verwaltung erfordert andere Fähigkeiten oder beruht auf anderen Methoden und Gesetzeslagen. Trotz dieser Menge und Vielfalt eine einheitliche Kultur zu schaffen, wäre ohne diese Erfahrungen in der Privatwirtschaft für mich nicht möglich.

Und am Schluss noch zwei persönliche Fragen: Was ist Ihre grösste Schwäche? Ich kann nicht Nein sagen. (Überlegt) In meinem Kopf läuft bei der Entscheidungsfindung ein Prozess wie bei einem Computerprogramm ab und ich reagiere schnell. Damit überfordere ich die Leute teilweise. Doch es ist weiss Gott nicht mein Wille, andere vor den Kopf zu stossen, und ich höre auch gut zu und gehe auf die Fragen und Bemerkungen der anderen ein, auch wenn das manchmal nicht so rüberkommt.

Worauf sind Sie in Ihrem Leben besonders stolz? Auf meine Familie. Ich bin dankbar für alles, was ich je machen durfte: die interessanten Projekte, die ich mit der Nagra realisieren durfte, wo es um den Umgang mit radioaktiven Abfällen ging, die niemand wollte. Stolz bin ich auch, am Schweizer Weltatlas mitgewirkt zu haben, den nun Schüler in der ganzen Schweiz benützen. Oder bei der Sanierung von SBB Cargo mitzuhelfen oder während der Unwetterkatastrophe 2005 im Kantonalen Führungsstab den Militäreinsatz führen zu können.

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