Wie das Nahen ihrer letzten Stunde, auf alle Lebendigen und Toten

Im Theaterstück «Verloren im Winkelried» geht es um die existenziellen Fragen. Ein Gespräch mit Autor und Regisseurin.

Das Lokal wird komplett bespielt.

Das Lokal wird komplett bespielt.

Martha Zürcher: Regisseurin.

Martha Zürcher: Regisseurin.

Jens Nielsen: Autor des Stücks.

Jens Nielsen: Autor des Stücks.

Menschen haben Mühe mit dem Tod. Oder vielleicht eher mit dem Abschied vom Leben. «Das Leben wird so kurz gewesen sein», schrieb einmal der französische Philosoph Jacques Derrida, der Tod komme immer zur «Unzeit». Selbst wenn er absehbar oder gar erwünscht ist, bleiben vor dem Übertritt der «Grenzen der Wahrheit» diffuse Gefühle übrig. Abschiede kann man beweinen. Sie feiern. Nichts tun. Lachen, mit Schuldgefühlen. Stoisch schweigen.

Jahrzehntelang spielte das «Winkelried» an der Landstrasse eine zentrale Rolle im gesellschaftlichen Leben in Wettingen. Bald ist damit Schluss. Bevor es aber so weit ist, bevor das letzte Bier gezapft ist, bevor die Tür zum letzten Mal geschlossen wird, bevor das Haus dereinst Schutt und Asche ist, spielt das «Winkelried» noch ein letztes Mal eine zentrale Rolle. Und zwar in einem Theaterstück, dem Ende seiner eigenen Epoche gewidmet: «Verloren im Winkelried» wird ab 10. September bis am 1. Oktober im «Winkelried» zu sehen sein.

Angefangen hat auch hier alles mit einem Abschied: Gisela Aeschbach hat, zusammen mit ihrem Mann, ihren alten Wohnort Zurzach hinter sich gelassen und ist nach Wettingen aufgebrochen. Dort angekommen, suchte sie nach Räumen, die fürs Theater bespielbar sind, stiess schnell auf das «Winkelried» und war davon fasziniert. Und obwohl das Restaurant eine Bühne besitzt, würde das der Idee des Bespielens von Räumen eben nicht gerecht, nein, am besten soll gleich das ganze Lokal bespielt werden. Nach einer Weile gelang es ihr, Jens Nielsen als Autor und Martha Zürcher als Regisseurin zu gewinnen, beides mittlerweile mit Preisen ausgezeichnete Theaterleute. Nielsen zum Beispiel hat den Schweizer Literaturpreis 2017 gewonnen. «Wir stehen hier am Ende einer langen Ära, und das sieht man auch, diese Spuren des Verbrauchs, aber genau das gefällt mir an diesem Ort», sagt er, der selber Wurzeln in der Region hat. Und auch Zürcher liess sich vom – wortwörtlichen – Geist des «Winkelried» faszinieren. «Man spürt und sieht, dass hier viel passiert ist. Jetzt aber ist alles so endgültig», sagt sie.

Geister fühlen

Überhaupt geht es den beiden in ihrem Stück sehr ums Spüren: «Wir gehen von den Stimmungen aus», sagt Nielsen. Das heisst, man hat sehr wohl mit den Wirtsleuten gesprochen, mit den Nachkommen, mit Stammgästen, am Ende aber dient das alles nur zur Inspiration, hier wird nicht nachgespielt, was wirklich passiert ist. «Das Haus ist ein eigener Kosmos. Man merkt, dass viele der Figuren im Stück draussen gar nicht mehr überleben könnten. Das ist ihre Welt, hier spielen sie noch eine Rolle, sie sind noch jemand, sie sind Teil von etwas, einer Geschichte, eines Lebens. Ausserhalb haben sie das nicht mehr», beschreibt Regisseurin Zürcher.

Bei aller Tragik, sagt Martha Zürcher, sei es doch «ein sehr lustvolles Spiel», eine Begegnung mit dem Absurden und Schrägen, ohne sich jemals lustig darüber zu machen. Nielsen zieht Parallelen zur Schweizer Schriftstellerin Adelheid Duvanel: «Bei ihr denkt man oft, das, was da passiert, ist das pure Unglück. Das, was mich aber beeindruckt, ist, dass all diese Figuren bei aller Tragik doch noch Energie haben. Das ist sehr existenziell, denn am Ende kommt niemand von uns ungeschoren davon. Wir verlieren alles. Entweder du verlierst zuerst deine Liebsten, oder sie verlieren dich.» «Was tun wir angesichts dieser Tatsache? Daran entscheidet sich die Schicksalsfähigkeit der Menschen. Darum würde mich interessieren, wer das Stück am Ende als Komödie und wer als Tragödie sieht. Das weiss ich selber noch nicht.»

Worum es aber konkret geht, ist gar nicht so einfach zu verraten. «Es gibt einen Urbetrug», erklärt Nielsen, entfernt an die Betrugsgeschichte des «European Kings Club» angelehnt, einer Gruppe mit sektenartigen Zügen, die in den 90ern ein Ponzi-Schema betrieb. «Vielleicht hat es auch etwas von Ödipus. Es werden Dinge weitervererbt und es kommt immer wieder zu Unglücken. Die Rache des Schicksals», erläutert Nielsen.

Herausforderung fürs Publikum

Aber: Eine klassische lineare Geschichte erzählt «Verloren im Winkelried» nicht. Nein, das Stück funktioniert anders. «Wir raten allen, die das Stück anschauen wollen und zu mehrt kommen: Teilt euch auf!», sagt Martha Zürcher. Gespielt wird nämlich nicht auf der Bühne, sondern im ganzen Lokal, auf der Kegelbahn, im Säli, im Schankraum. Und es gibt auch nicht einfach «ein Publikum», sondern mehrere Gruppen, die stets an verschiedenen Orten verschiedene Dinge erfahren können. Beim Erarbeiten des Stücks habe man sich gefragt: «Was, wenn die Szene einfach weiterlaufen würde, wenn die Publikumsgruppe wechselt?», sagt Zürcher. Das Stück solle funktionieren, als ob man an einer Tramhaltestelle stünde und nur «Dialogfetzen» mitkriegen würde, sagt Nielsen. «Wenn man da zuhört, macht man sich sofort ein Bild davon, was das für Menschen sind. Das möchten wir evozieren. Am Schluss hat man eine zusammenhangsbasierte Geschichte pro Zuschauer.»

Zuvörderst aber soll man sich mitten im Geschehen wiederfinden, wie Martha Zürcher sagt. Zu Beginn treffen sich alle Zuschauer zusammen beim Lottospiel. Und von da aus solle es einen weiter in den Mikrokosmos «Winkelried» ziehen. «Man fällt in das Haus hinein und merkt, hier lebt es, hier gibt es Beziehungen, zwei verlieben sich gerade, zwei streiten immer und als Zuschauer ist man Teil des Geschehens, bis man am Ende wieder hinausgeworfen wird», so Zürcher. Ein fragmentarisches Stück, ein bisschen wie ein morbider, tragikomischer Traum, ein bisschen, als wäre man tatsächlich Gast in einer Beiz, deren etwas fremde Welt man nicht so richtig versteht und womöglich auch gar nicht so richtig verstehen kann. Das sei aber auch nicht der Anspruch, sagen Regisseurin und Autor. Zusammenfassend: «Es wird keine Geschichte geben, die einfach einen Schluss hat», sagt Zürcher.

Ein Stück mit so einer Prämisse zu machen, ist komplex. Begonnen haben Zürcher und Nielsen mit Improvisationsübungen, «nicht nette, sondern fordernde», sagt die Regisseurin, um herauszufinden, mit welchen Schauspielern und Schauspielerinnen man wie weit gehen kann – schliesslich hat man es hier mit Laien zu tun. «Bei so einem Stück braucht man Leute, die sich wirklich etwas trauen. Sie müssen sich trauen, auf Tische zu stehen, durch die Leute zu rennen. Ich habe ihnen gesagt, es könne heftiger werden, als sie sich das gewohnt sind.» Dann, mit diesen Impros, hat Jens Nielsen langsam die Charaktere auf die Darsteller geschrieben, der Text zum Stück stand also nicht bereits am Anfang, sondern entstand langsam begleitend. Das war schwierig für alle. Es bedeutete ein Loslassen, ein Aufgeben von Kontrolle und gleichzeitig ein Schenken von Vertrauen in den anderen. Ein bisschen wie beim Abschied.

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