Wettingerin: «Frauen verdienen nach wie vor weniger als Männer»

Als Politikerin, Verlegerin und Wissenschaftlerin engagiert sich Doris Stump seit Jahrzehnten für die Gleichstellung von Frau und Mann. Anlässlich des 50-Jahr-Jubiläums des Frauenstimmrechts blickt sie auf die Errungenschaften seit damals zurück und sagt, wo es heute noch hapert.

Doris Stump ermuntert Frauen dazu, sich zu wehren. zVg/Sabine Rock
Doris Stump ermuntert Frauen dazu, sich zu wehren. zVg/Sabine Rock

Am 7. Februar vor 50 Jahren wurde das Frauenstimmrecht beschlossen. Ist das Jubiläum für Sie ein Grund zum Feiern?

Doris Stump: Es ist ein guter Anlass, um die Situation der Frauen in der Schweiz zu betrachten und sich vor Augen zu führen, was Frauen in diesen 50 Jahren geleistet haben.

Können Sie sich erinnern, an welchem Punkt im Leben Sie 1971 standen?

Ich war damals 20 Jahre alt, hatte die Matura abgeschlossen und befand mich im ersten Studienjahr. Ich fühlte mich meinen männlichen Kollegen ebenbürtig, hatte aber kein Stimmrecht. Das störte mich, da ich es als eine Selbstverständlichkeit ansah, dass die Geschlechter gleichgestellt sind. Aktiv für das Stimmrecht gekämpft hatte ich jedoch nicht. Ich weiss aber noch, dass ich jeweils mit grosser Verachtung am Haus des Brugger Fürsprechers Markus Herzig in meiner Heimat vorbeilief. Er war der Präsident der «Eidgenössischen Aktion gegen das Frauenstimmrecht».

Wann begannen Sie, sich aktiv für die Gleichstellung einzusetzen?

Aktiv geworden bin ich während meiner Zeit an der Uni Zürich. Ich habe mich dort als Präsidentin der Fachschaft Germanistik eingebracht. Nach einem Studienaufenthalt in den USA zog ich nach Wettingen und engagierte mich im Frauenzentrum Baden, in dem sich verschiedene Frauengruppen zusammenschlossen. Es wurde zu einem Treffpunkt für Frauen. Anlässe mit Vertreterinnen aus Politik, Kunst und Wissenschaft fanden statt. Ich organisierte unter anderem zahlreiche Selbstverteidigungskurse.

1990 traten Sie als erste Frau für die SP in den Wettinger Gemeinderat. Erlebten Sie viel Widerstand?

Ja. Einige Männer hatten Mühe damit, zu akzeptieren, dass eine Frau ernst genommen werden will. Einige besassen immer noch ein altbackenes Frauenbild. Sie vertraten die Meinung, dass die Frau an den Herd und ins Haus gehört, hübsch und nett, aber politisch ruhig sein soll. Mit bösen Sprüchen versuchte man, mich fertig zu machen. Das Problem war nicht nur, dass ich eine Frau war, sondern dass ich zusätzlich die einzige SP-Vertreterin im Gemeinderat war. Linkes und feministisches Gedankengut wollte man im Gremium nicht dulden. Doch ich blieb hartnäckig, liess nichts auf mir sitzen und wehrte mich.

Woher nahmen Sie die Kraft dazu?

Ich erfuhr ja nicht nur Ablehnung, sondern auch Anerkennung. Ich wurde als Gemeinderätin vier Mal wiedergewählt, man hat mich und meine Arbeit wahrgenommen und auch geschätzt. Motivierend war für mich auch, dass ich in diesen 16 Jahren als Gemeinderätin einiges bewirken konnte. Dazu gehörten zum Beispiel die Einführung von Teilzeitstellen, Russpartikel-Filtern bei den Regionalbussen, die Unterstützung von Kinderkrippen oder dass Frauen bei der Polizei angestellt werden. Zudem war die Zusammenarbeit im Gegensatz zur Exekutive in meinem Ressort Soziales von Beginn an gut. Als ich 1995 in den Nationalrat gewählt wurde, änderte sich auch das Klima im Gemeinderat. Ich erhielt dadurch einen anderen Status und wurde nicht mehr nur als feministische Nörglerin betrachtet. Als Antoinette Eckert als zweite Frau in den Gemeinderat gewählt wurde und Felix Feiner als weiteres SP-Mitglied Einzug in der Exekutive nahm, ging es mit der Stimmung weiter aufwärts.

Von 1995 bis 2011 wirkten Sie als Nationalrätin. Dort wurden Sie als Frau nicht mehr bekämpft.

Nein, dort wurde nur noch über die Inhalte gestritten und nicht über die Berechtigung, ein Teil des Nationalrats zu sein. Ich konnte meine Energie daher für meine Anliegen bezüglich Gleichstellung und Umwelt nutzen. Unter anderem arbeitete ich an der Revision der Bundesverfassung mit, die geschlechtergerechter formuliert ist. Ich gehörte zudem einer Delegation beim Europarat an und war zum einen für einen Bericht zur stereotypen Darstellung von Frauen und Männern in den Medien und zum anderen für einen Bericht zur pränatalen Geschlechterselektion in Europa verantwortlich.

Seit 2001 leiten Sie den feministischen Verlag «eFeF», der vornehmlich Sachbücher und literarische Werke von Schweizer Autorinnen publiziert. Wie kam es dazu?

Wenn ich den Verlag nicht übernommen hätte, wäre er eingegangen. Im Gründungsjahr 1988 hatten es Frauen schwer, ihre Werke zu publizieren. Die Situation hat sich mittlerweile verbessert. Ich selbst habe zwei Bücher beim «eFeF»-Verlag herausgebracht. Dazu gehört eine Sammlung von Texten von Schweizer Autorinnen von 1795 bis 1945. Die Arbeit daran war für mich sehr wichtig. Die Tradition und die Geschichte von Frauen zu kennen, die bereits ähnliche Ideen hatten und die für die Gleichstellung kämpften, motiviert und inspiriert. Die Berechtigung für uns Frauen weiterzumachen und an diesen Forderungen anzuknüpfen, ist da. Ich glaube, auch deshalb liegt mir die Weiterführung des Verlags sehr am Herzen.

Vor 50 Jahren erfolgte mit der Einführung des Frauenstimmrechts ein wichtiger Schritt Richtung Gleichstellung. Was hat sich seitdem positiv für die Frau verändert?

Eine grosse Errungenschaft ist das neue Eherecht, das 1988 in Kraft trat und auf dem Grundsatz der Gleichberechtigung von Frau und Mann beruht. Zuvor war die Frau zum Beispiel noch angehalten, ihren Mann um Erlaubnis zu fragen, wenn sie arbeiten wollte. Auch das Lohngleichheitsgesetz, das Ende 2018 als Passus im revidierten Gleichstellungsgesetz integriert wurde, ist erfreulich. Freude bereitet mir, dass heute viel mehr Frauen in der Politik aktiv sind. Im Nationalrat machen sie derzeit 42 Prozent aus. Auch an den Hochschulen hat sich etwas getan, es gibt mehr Professorinnen. Der Umgang und die Sensibilität der Polizei im Zusammenhang mit Gewalt an Frauen haben sich ebenso verbessert. Als Kämpferin für eine geschlechtergerechte Sprache hat mich die Nachricht, dass Duden das generische Maskulin abschafft, sehr gefreut. Wer Personen beider Geschlechter meint, muss laut Duden neu auch die weibliche Form nennen. Eine Forderung, die wir Frauen bereits vor 40 Jahren vorbrachten.

Von einer vollständigen Gleichstellung in der Schweiz kann aber immer noch nicht die Rede sein. Was muss noch alles passieren?

Die rechtliche Gleichstellung wurde in den vergangenen Jahren geschaffen, doch eine tatsächliche Gleichstellung existiert noch immer nicht. Frauen verdienen nach wie vor weniger als Männer. Ziel wäre es, eine Lohngleichheit für gleiche Arbeit und gleichwertige Arbeit zu erreichen. Das heisst also, dass nicht nur eine Journalistin gleich viel Lohn erhält wie ein Journalist, sondern auch eine Coiffeuse so viel bezahlt bekommt wie ein Mechaniker. Die Berufswahl ist noch stark von Stereotypen geprägt. In Schulbüchern und bei der Berufsberatung sollte Mädchen und Frauen aufgezeigt werden, wie viele Möglichkeiten sie haben. Auch bei der Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Familie gibt es grossen Handlungsbedarf. Für Männer stellt sich nach wie vor nicht die Frage, die Arbeit zu reduzieren oder aufzugeben, während für eine Frau ein Kind oftmals das Ende der Karriere bedeutet. Es muss dafür gesorgt werden, dass Frauen trotz Kindern im Beruf bleiben können und den Anschluss dadurch nicht verlieren. Die Einführung von Elternzeit für beide Elternteile könnte dabei helfen.

Der Weg zur Gleichstellung ist also noch lange nicht zu Ende. Was geben Sie Frauen für einen Rat, damit sie in den nächsten 50 Jahren feministische Anliegen vorantreiben können?

Ich ermuntere Frauen dazu, sich zu wehren. So wie es der Titel des Buchs über das Frauenzentrum Baden sagt: «Wehrt euch, bevor ihr frustriert und hässig seid». Meine politische Tätigkeit hat mir gezeigt, dass man etwas bewegen kann, wenn man sich getraut, den Mund aufzumachen. Ich habe nach acht Jahren im Gemeinderat Wettingen sogar meine männlichen Kollegen dazu gebracht, offensichtlichen Sexismus zu bemerken. Als wir als Gremium einmal jemanden trafen, der despektierlich über Frauen sprach, ich dazu jedoch schwieg, kamen sie nach dem Gespräch auf mich zu und meinten, dass dieser Mann ein sehr veraltetes Frauen-bild habe. Auch das bestätigte mir, dass sich Beharrlichkeit auszahlt und die Botschaft irgendwann ankommt.

Zur Person

Doris Stump ist in Brugg aufgewachsen. Nach der Matura studierte sie von 1970 bis 1977 an der Universität Zürich und am Bryn Mawr College in Pennsylvania Germanistik und Anglistik. Die Gymnasiallehrerin war von 1987 bis Dezember 1989 Einwohnerrätin von Wettingen, danach bis 2005 Gemeinderätin. Von 1995 bis 2011 war die SP-Politikerin zudem als Nationalrätin tätig und gehörte unter anderem der Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie an. Seit 2001 leitet sie den «eFeF»-Verlag in Baden, der vornehmlich Literatur und Sachbücher von Schweizer Autorinnen publiziert. Von Mai 2010 bis April 2015 amtete sie als Präsidentin der Aargauer Spitex und präsidierte die Spitex Wettingen-Neuenhof. Stump ist 70 Jahre alt und lebt in Wettingen. 

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