Wettingerin pendelt zwischen zwei Welten

Die Journalistin und Fotografin Vera Rüttimann fliegt seit 30 Jahren zwischen ihrem Geburtsort Wettingen und ihrer Wahlheimat Berlin hin und her. Das ist nicht immer einfach.

Vera Rüttimann pendelt seit 30 Jahren zwischen ihrem Geburtsort Wettingen und Berlin. Dieses Foto entstand vor zwei Wochen an einer Ausstellung in Berlin. zVg
Vera Rüttimann pendelt seit 30 Jahren zwischen ihrem Geburtsort Wettingen und Berlin. Dieses Foto entstand vor zwei Wochen an einer Ausstellung in Berlin. zVg

Wenn Vera Rüttimann aus dem Fenster ihrer Berliner Einzimmerwohnung schaut, sieht sie Flugzeuge am Himmel. Wer zu Rüttimann in ihre Wohnung blickt, entdeckt Parkettböden, Stuckaturdecken und Dias. Die Wohnung liegt im Stadtteil Prenzlauer Berg, 20 Minuten vom Flughafen Tegel entfernt. Wartend auf einen Flieger nach Zürich, hat sie viele Stunden dort verbracht. Sie bezeichnet ihn als ihr zweites Wohnzimmer. Rüttimann pendelt zwischen der deutschen Hauptstadt und Wettingen. Zum Zeitpunkt des Gesprächs weilt sie in Berlin, die Journalistin in der Schweiz. Deshalb findet es per Skype statt. Währenddessen macht sie immer wieder Pausen, holt aus, schliesst die Augen zum Nachdenken.

Rüttimann ist in Wettingen geboren, war Schülerin, Ministrantin, Blauring- und Pfarreiratsmitglied. Sie sei Teil einer lebendigen Pfarrei gewesen. Pfarrer Ernst Heller sei einer der Menschen, die ihr Leben mit seinen Ideen und seinem Charisma geprägt hätten.

1986 fuhr sie mit Hellers Jugendgruppe nach Taizé (F). Der Ort ist Sitz einer christlichen Gemeinschaft, die als Treffpunkt für Jugendliche aus der ganzen Welt gilt. Dort habe sie zum ersten Mal gemerkt, dass es mehr zu sehen gibt als ihre Pfarrei, Wettingen, die Schweiz. Nach der Sekundarschule absolvierte sie das KV in Baden. Im November 1989, inmitten der Abschlussprüfungen, packten sie die Vorgänge rund um den Mauerfall. Wenige Tage danach fuhr sie zum ersten Mal nach Berlin. «Ich hatte begriffen: In unserem Nachbarland geschieht Welthistorisches. Da will ich dabei sein», sagt die 52-Jährige.

Irgendwann kam die unbefristete Aufenthaltserlaubnis

Mit der Teilnahme am gesamtdeutschen Katholikentag im Mai 1990 eröffnete sich Rüttimann die erste Möglichkeit für einen längeren Aufenthalt in Berlin. Nach mehrmaligem Verlängern des Visums kam irgendwann die unbefristete Aufenthaltsbewilligung. Zu Beginn habe sie Praktika bei Zeitungen und Fotografen gemacht. Viel von ihrem Wissen habe sie sich autodidaktisch, mit Kursen und Workshops beigebracht. Anfangs sei sie nicht oft gependelt. Zugtickets waren teuer. Erst, als um die Jahrtausendwende die Flugtickets günstiger wurden, habe das angefangen. «Ich liebe das Fliegen.» Der Grund dafür unter anderem sei ihr Interesse für alte Flugzeuge und die Geschichte interessanter Flughäfen.

Heute sagt sie: «Berlin hat mich angezogen wie ein Sog. Trotzdem wollte ich den Bezug zur Schweiz nicht verlieren. Vielleicht komme ich eines Tages ganz zurück.» Sie brauche beide Welten: das urbane Stadtleben und das beschauliche Treiben in der Schweiz. Der Grossteil ihres Freundeskreises lebt nach wie vor dort. Nach zwei, drei Wochen packe sie jeweils die Sehnsucht nach dem anderen Ort. Sie ist sich aber auch bewusst: «Das Pendeln zwischen zwei Welten ist spannend, verkompliziert das Leben etwas.» Es sei nicht leicht, den anderen zu vermitteln, was man im jeweiligen Land erlebe. Für die Berliner sei das Leben in der Schweiz weit weg und umgekehrt. Gerade weil sie so oft unterwegs sei, brauche sie eine starke Verwurzelung. «Nach Möglichkeit besuche ich jeden Tag mein jeweiliges Lieblingscafé und pflege Freundschaften.»

Mittlerweile pendelt Rüttimann seit 30 Jahren. «An den Luxusautos sieht man, dass Wettingen zu einem Einzugsgebiet von Zürich geworden ist.» Wo in Berlin früher zerfallene Strassen waren, stünden heute schicke Lofts. Einen besonderen Bezug hat sie zur Kastanienallee im Stadtteil Prenzlauer Berg. Rüttimann ist denn auch Protagonistin eines Dokumentarfilms über die Strasse. Er heisst «Berlin Kastanienallee» und läuft am 24. November um 20.15 Uhr auf dem deutschen Fernsehsender RBB.

Durch ihre Reisen muss sie immer mal wieder in Quarantäne

Heute arbeitet Rüttimann in der Schweiz häufig als Journalistin für das katholische Onlinemagazin «kath.ch». In Berlin recherchiert sie für Texte für deutsche Medien, geht Fotoprojekten nach und arbeitet an Konzepten für Ausstellungen. Aus den Bildern aus über 30 Jahren soll ein Bildband entstehen. Zudem macht sie normalerweise Stadtführungen. Derzeit sind ihre Tätigkeiten eingeschränkt: Stadtführungen finden keine statt. Sie muss nach Geschichten suchen. «Reisen hat sich verkompliziert.» Sie müsse sich stets informieren, wo welche Bestimmungen gelten. Das könne schon mal dazu führen, dass sie in Quarantäne muss. So wie kurz vor diesem Gespräch. So viel wie vor dem Lockdown reise sie aber nicht mehr. In Berlin halte sie sich viel in ihrer Wohnung auf. Dort könne sie schreiben, recherchieren, sich konzentrieren. Für Hobbys bleibe nicht viel Zeit: «Meine kreative Arbeit füllt mich komplett aus.»

Im Moment ist sie damit beschäftigt, Konzepte für Fotofestivals in Europa zusammenzustellen. Unter anderem «Foto Zürich», das im Januar 2021 stattfindet. Und sie verabschiedet sich vom «Tegel». Das fällt ihr nicht leicht. Gerade, weil sie viele Stunden dort verbracht hat. Umso wichtiger war es ihr, die Besucherterrasse des Flughafens ein letztes Mal zu besuchen: am 8. November für die letzte Landung einer Maschine.

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