Heiligabend im Arm enviertel
Weihnachten mal anders: Statt am gedeckten Tisch bei der Familie verbrachte die Autorin Heiligabend im Armenviertel in Südafrika.
Ich sitze in Kapstadt, als ich vor einem Jahr den Artikel über die bevorstehende Weihnachtsfeier in der Wohngemeinschaft des katholischen Diakons Markus Heil fertigschreibe. Zum ersten Mal verbringe ich die Weihnachtstage nicht in der kalten Schweiz. Weihnachten ohne meine Kinder, ohne Familienfest und ohne Fondue Chinoise. Während ich schreibe, dass Markus Heil an Heiligabend sein Haus in Wettingen für einsame Menschen öffnet, weiss ich überhaupt noch nicht, wie ich den 24. Dezember verbringen werde. Ich habe einzig ein paar Namen von Projektpartnern in Südafrika erhalten, die von einem Schweizer Verein unterstützt werden. Zusammen mit meinem Mann will ich sie besuchen und wenn möglich unterstützen.
In Kapstadt fühlt es sich zuerst gar nicht so fremd an. Die Weihnachtsdeko blinkt und glitzert, im Shoppingcenter kann man Geschenke einpacken lassen und Getränke mit Zimtgeschmack gibt es im Kolonialland sowieso fast überall. Einzig der Weihnachtsklassiker «White Christmas» passt nicht so recht zu den sommerlichen Temperaturen um die 30 Grad.
Zwei Welten in einem Land
Auf der Fahrt zu Mofolorunso Adesoji Mofolasayo, einer der Kontaktpersonen, zeigen sich aber erste Unterschiede: Am Rande der Autobahn joggen und spazieren Menschen, einfache Häuser und Hütten aus Blech und Plastik reihen sich am Stadtrand aneinander.
Doch so richtig deutlich wird die Andersartigkeit erst nach der zweistündigen Fahrt ins Landesinnere in Worcester. Pastor Fola, wie Mofolasay von allen genannt wird, meldet sich mit fünfstündiger Verspätung. Mit einem verbeulten Toyotabus, in dem etwa zwanzig Kinder zusammengepfercht sitzen und stehen, fährt er in den Avian Park. Das Armentviertel mit den rund 16000 Einwohnern besteht mehrheitlich aus Blechhütten und stammt aus der Zeit der Appartheid. Auch wenn sich die Bevölkerung mit dunkler Hautfarbe seit der Aufhebung in den 1990er-Jahren überall aufhalten darf, existieren die Viertel bis heute. Ebenso die dort besonders grosse Armut, Kriminalität, Drogen- und Alkoholabhängigkeit. Der Ort ist das pure Gegenteil der Shoppingcenter und Villen in Kapstadt.
Essen aus der Margarinebox
Wir folgen Folas Bus in unserem Mietwagen über holprige Strassen. Immer wieder müssen wir Löchern in der Strasse ausweichen. Nach einer Viertelstunde halten wir vor einer Hütte aus Backstein und Holzplatten, es warten bereits ein Dutzend Kinder davor. Ein Jugendlicher öffnet das Schloss, stellt eine Musikbox auf die Steinplatte, die auf ein paar aufeinandergelegten Steinen liegt.
Es dauert nicht lange und der Raum ist mit mehr als 50 tanzenden, singenden und betenden Kindern gefüllt. Auch ein paar Erwachsene sind da, vorwiegend Ältere. Ab und zu gibt die Glühbirne den Geist auf und es wird einen Moment dunkel – der Freude der Kinder tut dies keinen Abbruch. Nach anderthalb Stunden holen Jugendliche riesige Kochtöpfe aus dem Bus und die Kinder bilden eine Reihe. Zuvorderst die Jüngsten, zuletzt die paar Erwachsenen. Während wir mithelfen, das Essen in die leeren Margarine- und Plastikdosen zu schöpfen, erfahren wir, dass Pastor Fola ausser sonntags jeden Abend herkommt und Essen verteilt.
Weihnachten im Armenviertel
Wir müssen die Eindrücke von den Welten zwischen Reichtum und Armut verdauen – und haben unsere Aufgabe für Weihnachten gefunden. Schliesslich machen wir das, was wir auch zu Hause am Morgen vor Heiligabend tun: einkaufen. Allerdings nicht für vier Personen, sondern für hundert Kinder. Die Jugendlichen helfen mit und grillieren die Pouletschenkel auf dem Feuer, Pastor Fola macht Kartoffelsalat.
Dann wiederholt sich das Szenario. Wir fahren wieder über die holprigen Strassen ins Township und singen, tanzen und beten mit den Kindern. Noch nie habe ich mich an Heiligabend so nah am Ursprung von Weihnachten gefühlt wie in diesem Moment inmitten des Armenviertels. Dort auf dem kalten Dreckboden bei den Kindern, die keine Eltern haben, die mit ihnen Weihnachten feiern können oder wollen. Wo ein warmes Essen aus der gebrauchten Margarinebox für sie ein Festmahl ist. Noch nie habe ich mich auch so demütig gefühlt wie in diesem Moment an diesem Weihnachtsabend. Als ich ein Mädchen auf dem Arm halte, das eingeschlafen ist und mein Arm plötzlich warm wird, weil es eingenässt hat. Ich weiss: Es wird sich zu Hause nicht duschen können, so wie ich später in meinem Hotelzimmer.
Auch wenn ich meine eigenen Kinder in diesem Moment vermisse, so empfinde ich vor allem Dankbarkeit. Dankbarkeit, hier zu sein; diese Fröhlichkeit zu erleben, an einem Ort, wo ich sie nicht erwartet habe. Dankbarkeit, dass es Menschen wie Pastor Fola gibt, die den Kindern Essen und Hoffnung geben. Nicht nur an Weihnachten, sondern das ganze Jahr.
Von der Waffenkammer zum Nachhilferaum für Kinder
Dieses Erlebnis hat mich so geprägt, dass ich ein paar Monate später zurückkehre und noch mehr Menschen wie Fola kennenlerne. Etwa Sylvester de Koker, der jahrelang als Gangleader im Avian Park lebte und viel Leid verantwortete. Er zeigt mir sein altes Daheim. In der Fensterscheibe hat es ein Einschussloch von seinem letzten Kampf. Nachdem sein Bruder in eine tödliche Schiesserei geriet, sann er um: «Ich wollte nicht auch noch meine beiden Töchter und meine Frau verlieren.» Das war vor vier Jahren. Mittlerweile hat er sich in der Stadt einer christlichen Organisation angeschlossen. Im Frühling half ich ihm, die ehemalige Waffenkammer zu einem Lernort für Kinder umzugestalten.
Dort wird er – so wie Fola in seiner Backsteinhütte – mit Kindern im Armenviertel Weihnachten feiern. Dieses Jahr ohne uns. Wir werden heuer wieder ganz normal mit unseren eigenen Kindern, Familienfesten und Fondue Chinoise feiern. Vergessen werde ich den letztjährigen Heiligabend aber nie. Und auch die Menschen nicht, die sich in Südafrika und der Schweiz an Weihnachten für andere einsetzen. Auch in Wettingen öffnet Markus Heil sein Haus wieder für alle, die sonst alleine Weihnachten feiern müssten.
Weitere Angebote an Heiligabend in der Region im Artikel auf S. 13.














