Killwangener Pflegefachfrau: «Es kann alles sehr schnell gehen»

Evelyne Lüchinger arbeitet im Zürcher Stadtspital Triemli. Im Interview sagt die 47-Jährige, wie sie die Stimmung erlebt und warum das Pflegepersonal eine zweite Welle befürchtet.

Evelyne Lüchinger im Einsatz im Stadtspital Triemli am Wochenende. zVg
Evelyne Lüchinger im Einsatz im Stadtspital Triemli am Wochenende. zVg

Wir haben kurz vor dem Lockdown schon einmal miteinander telefoniert. Damals gingen Sie davon aus, dass Sie im Spital Mehreinsatz leisten werden. Es kam dann aber anders. Wie?

Evelyne Lüchinger: Das Pflegepersonal rechnete ganz klar mit einem Mehreinsatz aufgrund der Ereignisse in Italien und im Tessin. Weil zu Beginn aber im Spital nur noch Notfälle behandelt werden durften, hatten wir am Anfang aber sogar weniger zu tun. Grund dafür ist einerseits, dass das normale Pflegepersonal nicht ohne Schulung mit den Beatmungsgeräten umgehen kann, und andererseits waren wesentlich weniger Leute unterwegs, was dazu führte, dass es weniger Unfälle und entsprechend weniger Spitalbehandlungen gab. Aus diesen Gründen arbeitete ich in den vergangenen sechs Wochen sogar etwas reduzierter als üblich, solche Schwankungen sind jedoch mit meinem Teilzeitpensum normal. 

Sie sind auch Mutter von drei Kindern im Alter zwischen 13 und 18. Wie erlebten Sie die Doppelbelastung Homeschooling und Arbeit?

Ich war sehr froh, musste ich nicht mehr arbeiten und konnte mehr Zeit zu Hause verbringen. Denn gerade unser Jüngster brauchte am Anfang noch etwas Unterstützung im Umgang und beim Lernen mit dem Computer sowie sich den Tag gut einzuteilen. Es war eine erlebnisreiche Zeit für uns alle. Glücklicherweise gab es auch nicht mehr Streit als üblich zwischen den Kindern und Eltern. Unsere Kinder haben sich vorbildlich an die Vorgabe des Bundes gehalten und sind immer zu Hause geblieben. Im Spital konnte ich mitverfolgen, wie alles für Coronapatienten vorbereitet wurde und die psychische Anspannung von Tag zu Tag stieg. Allerdings hat mich frustriert, als ich sah, wie viele alte Leute unterwegs waren. Den Jungen schärfte man ein, zu Hause zu bleiben; viele ältere Personen gingen demgegenüber sorglos einkaufen, obwohl wir diesen Lockdown ja vor allem für sie machten. Sie hielten sich nicht an die Empfehlungen des Bundes und sagten:  «Ich bin sowieso schon alt, dann sterbe ich halt.» Ich bin mir aber sicher, dass ihnen nicht bewusst ist, auf welche Art Coronapatienten sterben, sonst würden sie anders denken. 

Wie sterben Coronapatienten?

Ich selbst war nie auf einer Coronastation im Einsatz, sondern arbeite auf der Privatstation Chirurgie. Aber wir erfuhren von Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen, dass der Sterbeprozess bei Coronapatienten auch für erfahrene Pflegende eine grosse psychische Belastung darstellt. Erschwerend kommt für das Betreuungspersonal und die Patienten hinzu, dass die Angehörigen, wenn überhaupt, ihre Liebsten erst kurz vor dem Tod oder im ganz kritischen Zustand sehen konnten. Die Angehörigen konnten sich genauso wenig wie die Pflegenden auf die Krankheit einstellen, weil alles sehr schnell gehen kann. Sie durften auch nicht vorbeikommen und sie in den Arm nehmen, sondern sie lediglich auf Distanz mit Schutzkleidung besuchen. Fürs Personal war diese Ausnahmesituation intensiv und auch schwer zu ertragen. Nebst der Betreuung der Patienten kam auch eine intensive Betreuung der Angehörigen nach dem Tod dazu. Auch wenn die ganze Situation in unseren Schweizer Spitälern nicht so schlimm war wie in Italien, ist diese Ausnahmesituation für das Personal auf der Intensivstation extrem herausfordernd, belastend und psychisch wie auch physisch äusserst intensiv. Ganz am Anfang bestand auch grosse Unsicherheit unter dem Pflegepersonal, da man noch keine Erfahrung hatte, wie die Patienten auf Medikamente reagieren und wie viele Leute tatsächlich erkranken werden.

Hatten Sie Angst, sich anzustecken?

Ich persönlich fühle mich im Spital sicherer als auf dem Weg zur Arbeit oder beim Einkaufen. Wir halten uns im Spital sowieso an die Hygienemassnahmen und tragen alle während des ganzen Diensts Schutzmasken. Nach wie vor herrscht im Spital ein Besuchsverbot. Meine grösste Angst ist, den Virus ins Spital zu tragen oder wegen der Krankheit nicht zur Arbeit erscheinen zu können und das Team im Stich lassen zu müssen. Deshalb halte ich mich konsequent an die Schutzvorkehrungen des Spitals und auch im Privaten an die Empfehlungen des Bundesrates.

Wie schwierig ist für die Patienten das Besuchsverbot?

Es ist sehr einschränkend. Nur Patienten mit Ausnahmebewilligungen, beispielsweise Schwerstkranke, dürfen besucht werden. Sonst gilt das Verbot uneingeschränkt. Ist man den ganzen Tag an das Krankenbett gefesselt und darf keinen Besuch bekommen, ist ein Tag sehr lang. Viele Patienten haben deshalb ein grösseres Bedürfnis, zu reden.

Ansonsten gab es Lockerungen. Wirken sich diese auf die Stimmung im Krankenhaus aus?

Ja, es ist wieder eine grössere Anspannung zu spüren. Das Bewusstsein der Bevölkerung geht zurück, sie halten sich weniger an die Schutzmassnahmen, die Grenzen öffnen und die Menschen sind wieder vermehrt unterwegs. Im Spital befürchten deswegen viele eine zweite Welle. Ich bin selbstverständlich sehr glücklich, wenn diese Welle nicht kommt, aber es fehlt einem einfach die Erfahrung mit diesem heimtückischen Virus. Deshalb war ich ziemlich erschrocken, als ich letzten Freitag in der Migros im Shoppi einkaufte und sah, wie viele Menschen sich dort treffen und die Freizeit verbringen, ohne Notwendigkeit.

Können Sie dem Ganzen auch etwas Positives abgewinnen?

Das Thema Patientenverfügung wurde vermehrt thematisiert. Solange nichts anderes geregelt ist, wird wiederbelebt – das wurde vielen bewusst. Ich hoffe, dass sich die Leute mehr Gedanken darüber machen und allenfalls eine entsprechende Verfügung unterschreiben. Und natürlich war es schön, dass unsere Arbeit wertgeschätzt und für uns geklatscht wurde. Doch im Grunde nützt uns das nichts. Ich bin gespannt, ob die Wertschätzung anhält und es auch eine positive Veränderung im Ausbildungsbereich oder bei Lohndiskussionen gibt. Schliesslich ist der Mangel an Ausbildungsplätzen bekannt. Ich liebe meinen Job. Er ist sehr abwechslungsreich und befriedigend. Ich kann Menschen in schweren Situationen helfen und bekomme von ihnen auch viel Dankbarkeit zurück. 

Evelyne Lüchinger, 47, ist ausgebildete Pflegefachfrau, hat im Inselspital Bern, im Kantonsspital St. Gallen und in einer Rehaklinik in Paris gearbeitet, bevor sie vor 20 Jahren ins Stadtspital Waid und Triemli in Zürich wechselte. Sie ist verheiratet, Mutter dreier Kinder und seit 16 Jahren in Killwangen wohnhaft.

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