«Wir führten in Sumy ein ganz normales Leben»

Olena Ponomarenko lebt mit ihren Töchtern Valeriia und Veronika in der Wohnung von Evelyne und Bruno Bernasconi. Sie sind aus der Ukraine geflüchtet.

Verstehen sich gut: Evelyne und Bruno Bernasconi mit Valeriia Skotarenko, Veronika und Olena Ponomarenko (v.l.) . Melanie Bär
Verstehen sich gut: Evelyne und Bruno Bernasconi mit Valeriia Skotarenko, Veronika und Olena Ponomarenko (v.l.) . Melanie Bär

Valeriia Skotarenko öffnet die Tür zur 2½-Zimmer-Wohnung im dritten Obergeschoss an der Bahnhofstrasse in Killwangen. Ein Gang führt in die Wohnstube. Vor der offenen Küche steht ein grosser runder Tisch mit fünf Stühlen und ein Sofa im Stil der 1920er-Jahre. Daneben ein pinkes rundes Zelt und ein meterhoher brauner Plüschaffe – beides passt nicht so ganz zum anderen Einrichtungsstil.

Es ist eine von zwei Wohnungen zuoberst im Gebäude vis-à-vis dem Killwangener Bahnhof. In den unteren Geschossen befinden sich mehrere Büroräumlichkeiten der Anwaltskanzlei von Bruno und Evelyne Bernasconi. Bis vor Kurzem lebte deren Sohn in der Wohnung. Am 1. April zog Olena Ponomarenko (44) mit ihren beiden Töchtern Valeriia (22) und Veronika (6) darin ein.

Aus dem Alltag gerissen

Zuvor führte sie in der nordöstlich gelegenen ukrainischen Stadt Sumy ein «ganz normales» Leben, wie Mutter Olena mit Tränen in den Augen sagt. Sie spricht Ukrainisch, Tochter Valeriia übersetzt ins Englische. Sie spricht fliessend, denn sie brauchte diese Sprachkenntnisse für ihre Arbeit in der Tourismusbranche. Ihre Mutter hingegen hat lieber Zahlen. Sie arbeitete Teilzeit als Buchhalterin, ihr Mann führte ein Unternehmen, die sechsjährige Veronika besuchte den Kindergarten. Olena nimmt das Handy und zeigt ein Bild mit lachenden Kindern, mitten unter ihnen steht Veronika mit einem Ukraine-Fähnli in der Hand. Das Bild ist Anfang Februar entstanden, es ist die letzte Aufnahme der Kindergartenzeit in der Ukraine.

Valeriia lebte in Kiew, wo sie nach ihrem Studium Arbeit fand. Sie hatte geplant, am 24. Februar ins 330 Kilometer entfernte Sumy zu fahren, um mit ihrer Familie den 70. Geburtstag ihres Grossvaters zu feiern. Daraus wurde nichts. Als der Krieg just an diesem Tag ausbrach, ging ihre Mutter mit ihrem Stiefvater und der Halbschwester Veronika in das nahe Trostyanets, wo es angeblich sicherer sein sollte. Doch es kam anders: Der Ort wurde angegriffen. Am 5. März verliess Olena ihre Heimat durch den Fluchtkorridor, um mit Veronika das Land zu verlassen. Veronikas Vater durfte sie nicht begleiten, Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren dürfen das Land nicht verlassen. So kehrte er nach Sumy zurück, das bisher von Angriffen verschont blieb.

«Meine Mutter rief mich an und wollte, dass ich mich auch in Sicherheit bringe und wir uns in Warschau treffen», sagt Valeriia. Der Zug brachte sie in die 750 Kilometer entfernte Stadt in Polen. Gemeinsam reisten sie von dort mit dem Zug nach Berlin und schliesslich über Basel nach Zürich, wo sie am 16. März ankamen.

Flugzeuglärm löste Erinnerungen aus

«Ich wollte meine Töchter in Sicherheit bringen», begründet die 44-Jährige, warum sie mit ihren zwei Kindern flüchtete. Nach der Ankunft registrierten sie sich beim Immigrationsamt in Zürich und verbrachten danach zwei Wochen in verschiedenen Flüchtlingszentren in Zürich, im Thurgau und schliesslich in Aarau. «Am Anfang war Veronika sehr schreckhaft. Hörte sie das Geräusch eines Flugzeugs am Himmel, zuckte sie zusammen», erzählt Olena. Am 1. April wurden sie dann von Evelyne und Bruno Bernasconi abgeholt und in die Wohnung nach Killwangen gebracht. Evelyne Bernasconi zückt ihr Handy und zeigt das Bild, das sie von den drei Frauen auf der Fahrt nach Killwangen gemacht hat. Veronika sitzt in der Mitte, vor ihr der braune Plüschaffe – ein Willkommensgeschenk der Gasteltern –, daneben sitzen ihre Halbschwester Valeriia und Mutter Olena. Sie lachen.

Sie hätten einander sofort ins Herz geschlossen, sagen alle. «Wir wussten nicht, wer kommt, wir hatten Glück», sind sich die Bernasconis einig. Sie hatten sich zuvor auf der Webseite des Kantons registriert und die Wohnung zur Verfügung gestellt. «Für uns ist es ein Zeichen von Solidarität», sagt das Ehepaar. Evelyne Bernasconi, die als Anwältin beruflich jahrelang mit Angelegenheiten im russischen Sprachraum zu tun hatte, ergänzt: «Ich war sehr bewegt von der ganzen Situation in der Ukraine und Russland.» Sie waren bereit, auf eine Vermietung der Wohnung zu verzichten und diese zur Verfügung zu stellen. Als positive Überraschung stellte sich im Nachhinein heraus, dass eine vom Kanton beschlossene Pauschalentschädigung für die Beherbergung Geflüchteter gegen die Hälfte von Kosten und Mietzinsausfall deckt.

Nach der Selbstständigkeit wieder auf andere angewiesen

Das Ehepaar investiert jedoch nicht nur Geld, sondern auch Zeit. Etwa viermal pro Woche besuchen sie die drei, laden sie nicht nur ins Haus nach Killwangen ein, sondern auch ins zweite Daheim nach Courgenay. Im Kanton Jura betreibt das Ehepaar Bernasconi das Hotel und Restaurant La Petite Gilberte, wo man in die Schweizer Geschichte eintauchen kann. «Wenn sie die Sprache etwas versteht, kann Valeriia vielleicht sogar bei uns mitarbeiten», sagt Evelyne Bernasconi und legt den Arm um sie.

Für die 22-Jährige ist es nicht immer einfach, nicht mehr selbstständig zu leben, zu arbeiten und mit Freunden zusammen zu sein. Sie ist dankbar, dass ihr Bernasconis einen Tisch und einen Stuhl in den Estrich gestellt haben und sie so einen kleinen Rückzugsort hat, wo sie am Computer Deutsch und Französisch lernen kann. Alles andere teilt sie mit der Mutter und der Halbschwester, selbst das Schlafzimmer.

«Wenn sie die Zeit nutzt, Deutsch und Französisch zu lernen, so hat das alles für sie immerhin einen Nutzen», so Evelyne Bernasconi. Man spürt, dass sich die beiden mögen. «Du Babuschka», sagt Valeriia und lacht. Sie wurde von Gästen für die Grossmutter gehalten und wie es scheint, stört sie das nicht.

Ungewisse Zukunft

Wie lange die drei Frauen noch in der Wohnung leben, ist ungewiss. Eines haben sie in den vergangenen Monaten schmerzlich gelernt: «Man kann Pläne haben. Die können sich aber innerhalb einer Minute ändern. Deshalb ist es wichtig, sich über jeden einzelnen schönen Moment zu freuen», resümiert Valeriia. Denn auch wenn sie ihr «normales» Leben gerne wieder zurückhätte, so gebe es auch hier schöne Momente. «Die Leute sind sehr gut und die Landschaft ist sehr schön.» Sie zeigt auf das pinke Zelt und sagt, dass Veronika das in Goshas Shop in Killwangen geschenkt bekommen hat. So wie Valeriia im Estrich hat sie mit diesem Zelt einen Rückzugsort bekommen.

Und trotzdem: Sie wünschen sich nichts sehnlicher als die Rückkehr in ihren Alltag in der Ukraine, telefonieren täglich mit dem Vater. «Doch wir können nur zurück, wenn die Ukraine bestehen bleibt. In Russland wollen wir nicht leben, denn wir sind freie Menschen und wollen uns nicht unterdrücken lassen.»

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