Auf der Suche nach einem sicheren Ort

Aus Betroffenheit reiste die Würenloserin Raquel Herzog vor acht Jahren nach Griechenland und gründete den Verein Sao, um flüchtende Frauen zu unterstützen. Im November machte sich Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider vor Ort ein Bild.

Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider (M.) zu Besuch im Bashira Centre in Lesbos, wo Raquel Herzog (1. v.l.) der Bundesrätin Anfang November zusammen mit den Mitarbeiterinnen vor Ort Einblick in die Arbeit zum Schutz der flüchtenden Frauen gab.zVg

Die Wohnung von Raquel Herzog liegt in einem Würenloser Bauernhof am Dorfende. «Ein paar Meter von der Kantonsgrenze entfernt», sagt die gebürtige Zürcherin und lacht. Als sie mit ihrer Familie berufsbedingt in den Aargau zog, sei der Baregg ihre Schmerzgrenze gewesen. Sie ist geblieben, hat ihre zwei Kinder grossgezogen und lebt immer noch im Bauernhaus. Mittlerweile zusammen mit dem erwachsenen Sohn und mit einer Ukrainerin und ihrer Tochter.

An diesem Morgen ist sie alleine in der Wohnung, bereitet sich gerade auf eine Präsentation bei Mitgliedern eines Rotary-Clubs in Zug vor. Sie will ihnen die Sao-Organisation vorstellen, die sie im Februar 2016 gegründet hat. Mittlerweile werden zwei Zentren für geflüchtete Frauen betrieben.

Aus Betroffenheit aktiv geworden

Die 61-Jährige zeigt auf die erste Folie ihrer Präsentation, darauf ist die Zeichnung eines Jungen abgebildet, der auf dem Boden liegt. Tot. Es ist die gezeichnete Version des Fotos von Aylan Kurdi, der während seiner Flucht vor acht Jahren aus Syrien im Mittelmeer ertrank und in der Türkei an Land gespült wurde. Das Bild des toten Jungen wurde in verschiedenen Medien gezeigt. «Es hat etwas bewirkt. Ich konnte mich danach nicht mehr einfach vor dem Fernseher hockend empören und schlafen gehen», sagt sie. Sie buchte einen Flug nach Lesbos und stand vier Wochen später als Freiwillige am Strand, um ankommende Flüchtlinge mit Wasser und Kleidung zu empfangen. Nach der Ankunft des zweiten Boots habe sie sich gefragt, ob sie das verkraftet oder wieder heimfliegen soll. Sie blieb.

Schutz für flüchtende Frauen

«Die Hälfte der Flüchtenden sind Frauen und Mädchen», sagt Herzog und fügt an, dass sich gemäss UN-Statistiken rund 112000 anerkannte Flüchtlinge und rund 50000 Asylbewerber in Griechenland aufhalten. «Frauen sagten mir immer wieder, dass sie keinen sicheren Ort haben», so Herzog. Als die Regierung forderte, dass nur noch Helfer von Organisationen erwünscht sind, gründete Herzog aus der Not drei Tage später den Schweizer Verein Sao und blieb.

In der Hafenstadt Mytilini mietete sie ein 4-Zimmer-Haus, in das nur Frauen Zutritt haben. In diesem «Bashira Centre» können die Frauen ohne Angst vor Übergriffen sichere und saubere sanitäre Anlagen nutzen, erhalten psychologische Unterstützung oder können einfach mal in Ruhe einen Tee trinken. Damit die Frauen auch nach der Weiterreise aufs Festland einen solchen Ort haben, hat der Verein in Athen ein zweites, grösseres Tageszentrum gegründet, das «Amina Center». 300 Frauen haben sich registriert, 70 bis 90 Frauen kommen zwei- bis dreimal pro Woche vorbei. Vor Ort erhalten die Frauen Unterstützung von 12 einheimischen Sozialarbeiterinnen, Psychologinnen, Lehrerinnen und Koordinatorinnen sowie einer Freiwilligen. «Die Frauen sind traumatisiert, deshalb haben wir uns vor fünf Jahren komplett auf professionelle psychosoziale Unterstützung spezialisiert.»

Sie selbst ist nur noch etwa vier Wochen pro Jahr vor Ort, den Rest ihrer ehrenamtlichen Arbeit erledigt sie von der Schweiz aus – sie ist unter anderem für die Finanzierung zuständig. Die Schicksalsschläge der Flüchtenden bekommt sie nur noch am Rande mit. Etwa von der Mutter, die sich grosse Vorwürfe macht, weil sie beim Bootsunglück nach zwei Stunden keine Kraft mehr hatte, die Hand ihres Kindes zu halten, und zusehen musste, wie es ertrank. «Diese Langzeitwirkungen des Krieges geben mir zu denken. Da wird eine ganze Generation traumatisiert.»

Wie weiter?

Dass mit dem Krieg im Nahen Osten nun noch mehr Menschen auf der Flucht sind, macht Herzog betroffen. Und er hat auch Auswirkungen auf ihre Organisation: Einerseits wird der Spendentopf auf noch mehr Länder und Hilfswerke aufgeteilt. Andererseits ist die Bevölkerung sensibilisiert aufs Thema. Positiv wirkt sich auch aus, dass der Verein mit dem Rotkreuzpreis ausgezeichnet wurde. Sao erhält auch Gelder vom Staatssekretariat für Migration (SEM). Im November hat Bundesrätin Elisabeth Baum-Schneider nach ihrem offiziellen Besuch in Lesbos das Bashira Center besucht und sich mit Herzog und Klientinnen ausgetauscht. Die Gründerin hofft, dass die Arbeit vom Staat weiterhin finanziell unterstützt wird.

Rund 500000 Franken hat die Aufrechterhaltung der beiden Zentren letztes Jahr gekostet. Die Kosten werden hauptsächlich mit Spendengeldern gedeckt. «Deshalb sind solche Repräsentationsaufgaben wie heute wichtig», sagt sie und steht auf. Schon bald verlässt sie den Bauernhof und macht sich über die Kantonsgrenze hinaus auf den Weg nach Zug. Sie will den Rotariern davon erzählen, wie aus Betroffenheit und einem spontanen Hilfseinsatz ungeplant eine Organisation entstanden ist. Warum sie ihren Job als Eventmanagerin an den Nagel hängte und sich stattdessen mit einem vierköpfigen Schweizer Team dafür einsetzt, dass Frauen auf der Flucht ein bisschen sicherer sind.

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