Leiterin der psychosozialen Spitex: «Ich bin froh, dass sie sich Hilfe holen»

Angelina Seifert leitet die private Firma in Würenlos. Im Interview anlässlich des Tags der mentalen Gesundheit am Samstag erzählt sie von ihrer Arbeit und gibt Tipps, wie man seiner Psyche Sorge tragen kann.

Angelina Seifert und ihr Team helfen 130 psychisch kranken Menschen. Sibylle Egloff
Angelina Seifert und ihr Team helfen 130 psychisch kranken Menschen. Sibylle Egloff

Der 10. Oktober gilt weltweit als internationaler Tag der psychischen Gesundheit. Sie kümmern sich um Menschen in psychischen Krisen. Was sind Ihre Aufgaben?

Angelina Seifert: Mein 17-köpfiges Team und ich betreuen Personen, die ihren Alltag aufgrund ihrer Erkrankung oder Symptomatik nicht allein bewältigen können. Das hat aber nichts mit Körperpflege oder Haushaltsdiensten zu tun. Wir aktivieren unsere Klienten, geben ihnen eine Struktur, erstellen mit ihnen Tages- oder Wochenpläne oder erarbeiten mit ihnen Bewältigungsstrategien, auf die sie in schwierigen Situationen zurückgreifen können. Wir unterstützen sie im Umgang mit ihren Symptomen und ihrer Krankheit, helfen beim Öffnen der Post, bei der Kommunikation mit Ämtern, gehen mit ihnen spazieren oder motivieren sie dazu, den Haushalt zu erledigen.

Sind Ihre aktuell 130 Klienten längerfristig auf Sie angewiesen?

Es gibt solche, die wir lange begleiten. Andere betreuen wir ein paar Wochen oder Monate. So etwa Personen, die nach einem Klinikaufenthalt zurück nach Hause kommen. Wir sind in der Übergangsphase für sie da und versuchen, zu stabilisieren.

Immer wieder auf Menschen zu treffen, denen es nicht gut geht, muss belastend sein. Wie gehen Sie damit um?

Ich sehe meine Arbeit nicht als Belastung. Es ist schön, dass ich Menschen unterstützen und begleiten darf. Wenn ich meine Klienten besuche, habe ich kein bestimmtes Ziel vor Augen. Das würde mich nur unter Druck setzen. Dieser würde dann an meine Klienten übertragen. Genau das möchte ich aber verhindern. Ich bin froh, dass sie sich Hilfe bei uns holen und wir ihnen mehr Lebensqualität geben können.

In einer solchen Situation Hilfe zuzulassen, fällt vielen wohl nicht leicht.

Das ist so. Psychisch kranke Personen werden auch heutzutage noch stigmatisiert. Das Thema ist schambehaftet. Viele brauchen Zeit, die Diagnose zu akzeptieren. Andere sind aber auch froh, wenn sie wissen, was mit ihnen los ist.

Wieso werden psychische Erkrankungen immer noch tabuisiert?

Das hat mit der Art der Erkrankung zu tun. Einen Beinbruch sehe ich, doch einer depressiven Person sehe ich auf den ersten Blick nicht an, was ihr fehlt. Schwierig für viele psychisch Kranke ist zudem, dass das Umfeld teilweise mit Unverständnis reagiert. Aussagen wie «Reiss dich zusammen» oder «Das ist doch nicht so schlimm» helfen den Betroffenen nicht. Sie führen dazu, dass sich Erkrankte die Schuld an ihrem Leiden geben. Sie vergleichen sich mit anderen.

Deshalb raten Sie auch psychisch Gesunden, sich nicht mit anderen zu messen.

Genau. Wichtig für die mentale Gesundheit ist, dass man bei sich bleibt und schaut, wie man sich fühlt und sich fragt: «Was tut mir gut?» oder «Wo liegt mein persönliches Limit?». Eine gute Balance aus Stress und Entspannung ist das beste Mittel gegen psychische Krisen. Man darf nicht vergessen, sich eine Auszeit zu gönnen. Wir müssen uns Perlen im Alltag suchen. Das kann für jeden etwas anderes bedeuten. Der eine schöpft Energie beim Sport, ein anderer kann bei einem Museumsbesuch abschalten. Ich lege jedem ans Herz, achtsam gegenüber sich selbst zu sein. So merkt man, wann es einem zu viel wird. Dazu gehört auch, dass man schöne Dinge, wie Wochenendausflüge oder Geburtstagspartys, ausfallen lässt. Man muss Abstriche machen. Es herrschen so viel Druck und hohe Ansprüche nicht nur in der Arbeitswelt, sondern eben auch im Privaten durch Familie und Freunde.

Sie haben die private psychosoziale Spitex 2016 ins Leben gerufen. Wie kam es dazu?

Ich habe 19 Jahre lang in der Psychiatrie gearbeitet, neun Jahre davon auf der geschlossenen Akutstation der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Als ich Mutter wurde, habe ich mich nach einer Tätigkeit mit flexibleren und geregelten Arbeitszeiten gesehnt. Zudem hatte ich einfach Lust auf etwas Neues. 

Ihr Team ist seither stetig gewachsen. Bald werden Sie weitere Mitarbeitende einstellen. Ihr Angebot scheint anzukommen. Freut Sie das?

Natürlich. Wir merken, dass unsere Begleitung guttut und geschätzt wird. Wenn man bedenkt, dass jede zweite Person mindestens einmal im Leben an einer psychischen Erkrankung leidet, finde ich es auch nur richtig, dass es möglichst viele solcher Angebote gibt.

Wie erlebten Ihre Klienten den Lockdown?

Für Klienten mit sozialen Phobien war diese Zeit positiv. Weil es ruhiger war und weniger Leute zirkulierten, konnten sie zum Beispiel ohne Probleme einkaufen gehen. Klienten, die an einem Waschzwang leiden, fühlten sich erleichtert, da in dieser Phase häufiges Händewaschen zu etwas Normalem wurde. Für andere war der Verzicht auf soziale Kontakte belastend. Corona führte auch dazu, dass einige Personen, die sonst stabil sind und wenig Beschwerden haben, nach dem Notstand auf uns zukamen.

In was für einer Gesellschaft würde es psychisch Kranken besser gehen?

In einer Gesellschaft, die tolerant und weniger wertend ist, in der jeder so sein kann, wie er ist. 

 

Zur Person

Angelina Seifert ist in Ravensburg aufgewachsen und absolvierte dort eine Ausbildung zur Fachfrau Gesundheit. Von 2007 bis 2015 arbeitete sie auf der Akutstation der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. 2016 gründete Seifert die private psychosoziale Spitex in Würenlos und ihrem Wohnort Geroldswil, die sich vornehmlich um psychisch kranke Personen im Aargauer und Zürcher Limmattal kümmert. Die 40-jährige Mutter hat sich auf körperorientierte Traumaarbeit, autogenes Training und Hypnose-therapie spezialisiert. (sib)

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