«Das Letzte Wort»
«Geh zur Seite! Die Leute wollen hier durch.» Ein Kind beginnt zu weinen. Immer lauter. Ich drehe mich um und sehe, wie eine Frau ein Kleinkind am Arm packt und von der Schranke beim Ausgang wegzieht. Vermutlich ihre Mutter. Ihre Stimme tönt genervt. Das Weinen geht in ein Schreien über. Hastig scannt die Frau die letzten Produkte und packt sie in die blaue Tasche. Ich dreh mich wieder um und widme mich meinen eigenen Einkäufen. Ehe die Frau ihre Quittung bei der Schranke hinhalten kann, öffnet sie sich bereits. Die Verkäuferin hat ihren Badge hingehalten, nickt der Frau und dem Kind freundlich zu und wünscht einen schönen Tag.
Mir fallen die Worte der Spielgruppenleiterin ein (Artikel S. 7), die eine sinkende Frusttoleranz der Kinder feststellt. Der Beraterin, die sagt, dass öffentliches Schimpfen dazu führen könne, dass sich das Kind blossgestellt fühle. Sie rät, ruhig zu bleiben und später mit dem Kind unter vier Augen zu reflektieren.
In der Theorie ist das einfach, in der Praxis ganz und gar nicht. Ich erinnere mich an einen Trotzanfall meiner Tochter vor einem Laden in Baden. Die Blicke richteten sich nicht nur auf sie, sondern auch auf mich. Ich schämte mich, wollte so schnell wie möglich weg. Deshalb konnte ich der Frau im Laden nachfühlen und wünschte ihr eine grosse Portion Gelassenheit. Ohne die ist es schwierig, in solchen Situation ruhig zu bleiben. Die Beobachtung der Spielgruppenleiterin trifft nämlich nicht nur auf die Kinder, sondern auf die ganze Gesellschaft zu: Die Frusttoleranz sinkt. Ich wünschte mir, es gäbe mehr Leute, die mit einem freundlichen statt bösen Blick reagieren, so wie die Verkäuferin. Wer weiss, vielleicht hat sie sich an die Trotzphase ihrer eigenen Kinder zurückerinnert und ist froh, diese heil überstanden zu haben. So wie ich. Heute, zwanzig Jahre später, kann ich mit meiner Tochter zusammen darüber lachen. Feedback:
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