Vorlesen zahlt sich für die Kinder aus

Ob in der Bibliothek oder der Spielgruppe: Durchs Vorlesen und Geschichtenerzählen will Sibylle Müller den Wortschatz der Kleinsten erweitern. Das sei nötig, weil Aufmerksamkeit und Kreativität der Kinder abnehme.

Sibylle Müller sitzt auf einem Kinderstuhl in der Bibliothek und zeigt auf ein Bild im Buch «Waschbär wäscht Wäsche». Um sie herum sitzen ein Dutzend Kinder und ebenso viele Erwachsene. In der Mitte steht ein grüner Zuber, auf einem Tischchen liegen Wäscheklammern und schmutzige Socken. «Es ist so warm, ich mag nicht alleine waschen, helft ihr mir?» fragt der Waschbär aus Plüsch, den Müller in der Hand hält. Die Kinder lachen und unterstützen Müller und den Waschbär beim Waschen.

Einmal im Monat lädt die Bibliothek alle 0- bis 3-Jährigen zum «Buchstart» ein. Seit Anfang Februar arbeitet Müller als Mitarbeiterin in der Bibliothek mit. Doch schon seit sieben Jahren erzählt sie den 0- bis 3-Jährigen Pappbilderbücher in der Bibliothek. Mit dem Geschichtenerzählen will Müller alle Sinne ansprechen. Sie liest nicht nur vor, sondern lässt die Kinder mitleben. «Gerade fremdsprachige Kinder hängen schnell ab, wenn man nur vorliest», weiss die 50-Jährige und fügt an, dass eine allgemeine Abnahme der Aufmerksamkeit bei den Kindern zu spüren sei.

Show, um Aufmerksamkeit zu haben

Sie muss es wissen, denn die Bibliotheksmitarbeiterin ist seit 15 Jahren Spielgruppenleiterin. «Früher waren sofort alle begeistert, wenn ich den Spielgruppenkindern anbot, ein Buch zu erzählen, heute muss ich fast eine Show bieten, damit die Kinder zuhören.» Durch den Medienkonsum seien sie sich Interaktivität gewohnt, leicht ablenkbar und nicht mehr so kreativ. «Früher konnte ich eine Kris-Krams-Kiste mit Alltagsmaterial wie Eierschachteln, WC-Rollen oder Wolle auf den Tisch stellen und die Kinder fingen an zu basteln. Heute haben sie keine Ahnung, was sie damit anfangen sollen», so Müller.

Ähnlich sei es in der Waldspielgruppe, die mangels Anmeldungen nach sieben Jahren nun in Killwangen nicht mehr stattfindet. Auch in der «Spielgruppe Schnäggehus» hat es noch freie Plätze. Um auf die neuen Bedürfnisse der Kinder eingehen zu können, hat Leseanimatorin Simone König Hauenstein die Spielgruppenleiterinnen im Juni geschult. Sie lernten Rituale für das Vorlesen, die Planung einer Geschichtensequenz sowie Einstieg und Abschluss einer Bilderbuchgeschichte.

Hauenstein unterstützt übrigens auch in der Bibliothek Spreitenbach, die sich am Pilotprojekt «Drehscheibe Bibliothek» beteiligt. Ziel ist es, dass Kinder von klein auf Zugang zu Geschichten und Büchern erhalten und Freude am Lesen finden. In Zusammenarbeit mit den Leseanimatorinnen des Schweizerischen Instituts für Kinder- und Jugendmedien (SIKJM) erweitert die Bibliothek ihr Angebot für Familien mit kleinen Kindern und für Vorschulinstitutionen. Der «Buchstart» ist eines der Angebote, der Besuch von Kindergärtlern in der Bibliothek ein anderer.

Müller sieht viele Vorteile, wenn die Sprache beispielsweise durch Vorlesen bereits im frühen Kindesalter spielerisch gefördert wird. «Das gemeinsame Geschichtenhören löst ein Gefühl von Verbundenheit aus, fördert Mitgefühl und Selbstwert der Kinder.» Wissenschaftliche Studien belegen zudem, dass Vorlesen oder Erzählen von Geschichten bei Kindern positive Effekte auf Sprach‑, Lern‑ und kognitive Entwicklung haben. Eine Studie der Ohio State University ergab beispielsweise, dass Kleinkinder, deren Eltern ihren Kindern fünfmal täglich vorlesen, bis zu ihrem fünften Lebensjahr bis zu 1,5 Millionen mehr Wörter in ihrem Wortschatz haben als Kinder, denen überhaupt nicht vorgelesen wurde. Gemäss Studien der «Stiftung Lesen» würden bereits ein paar Minuten am Tag einen Unterschied machen.

Kein Kurs sondern Zeit

«Dafür brauchen Eltern auch keinen Kurs, sie müssen sich einfach Zeit dafür zu nehmen», sagt Müller und fügt nachdenklich an: «Darüber mache ich mir Sorgen, man hat keine Zeit mehr, den Kindern vorzulesen.» Müller setzt sich in der Bibliohek und in der Spielgruppe dafür ein, dass die Kleinen trotzdem Zugang zu Geschichten und Büchern erhalten und Freude am Lesen finden. In der Bibliothek gibt sie auch Tipps, welche Bücher sich für welches Alter eignen oder bestellt auch Wunschbücher, die dann ausgeliehen werden können. Auch kindgerechte Themenbücher, beispielsweise im Umgang mit dem Tod, gibt es in der Bibliothek.

«Das Lieblingsbuch meiner Kinder war ‹Annas Wunsch›, das wollten sie so oft hören, dass ich es schon fast auswendig kannte», so Müller. Es handelt vom fehlenden Schnee: «Die Welt ist grau, und die Menschen machen traurige Gesichter. Da erfährt die kleine Anna von ihrer Mutter, wie es früher war, als die Kinder mit Schlitten verschneite Hügel hinunterfuhren und prächtige Schneemänner bauten. Anna wünscht sich nichts so sehr, als dass es endlich wieder einmal schneien würde. Und wenn man sich etwas ganz fest wünscht, kann es vorkommen, dass ein kleines Wunder passiert.» Auf Wunder hofft auch Müller – aber nicht nur. Indem sie den Zuber und den Waschbär zu den Kindern bringt, trägt sie auch selbst dazu bei, dass die Kinder wieder gerne beim Büchervorlesen zuhören.

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