«Wir erwarten keine Dankbarkeit»

Seit 14 Monaten leitet Belinda Turnell die Sozialen Dienste in Spreitenbach. Die 33-Jährige hat einiges umstrukturiert.

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sozialen Dienste hinten von links nach rechts: Elias Vogelsanger, Selina Scalise, Marcia Koch, Anja Köchli, Sasi Tharmalingam, Cédric Eckert; vorne links nach rechts: Fabienne Reichlin, Anja Haueter, Belinda Turnell, Natascha Pangellieri, Daniela Schaz, Jana Remondini (fehlend). zVg

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sozialen Dienste hinten von links nach rechts: Elias Vogelsanger, Selina Scalise, Marcia Koch, Anja Köchli, Sasi Tharmalingam, Cédric Eckert; vorne links nach rechts: Fabienne Reichlin, Anja Haueter, Belinda Turnell, Natascha Pangellieri, Daniela Schaz, Jana Remondini (fehlend). zVg

Eine Frau steht mit dem Kinderwagen am Schalter der Sozialen Dienste. Sie ist gerade Mutter geworden und will ein Gesuch um Elternschaftsbeihilfe einreichen. Sachbearbeiterin Anja Köchli wirft einen Blick auf die Dokumente und sagt freundlich: «Wir brauchen noch die Lohnabrechnungen des Arbeitgebers.» Sobald alle Unterlagen eingereicht sind, werden auf den Sozialen Diensten ihre Vermögens- und Einkommensverhältnisse geprüft. So wird ermittelt, ob der frischgebackenen Mutter aufgrund ihrer finanziellen Situation die im Gesetz geregelte wirtschaftliche Unterstützung zusteht. Erfüllt sie die Bedingungen, bekommt sie Geld, um ihr Kind trotz schlechter Finanzlage während der ersten sechs Monate persönlich betreuen zu können.

Solche Abklärungen gehören zum Alltag der Mitarbeiterinnen auf den Sozialen Diensten. Mehr als die Hälfte ihrer Arbeitszeit arbeiten sie administrativ. «Bevor eine Person beispielsweise Sozialhilfegelder erhält, müssen wir abklären, ob der Person andere subsidiäre Leistungen zustehen. Ist das der Fall, unterstützen wir sie, diese geltend zu machen», sagt Belinda Turnell, Leiterin der Sozialen Dienste in Spreitenbach. Denn nur wenn sich die bedürftige Person nicht selber helfen kann und keine Sozialversicherung oder Dritte zahlen müssen, erhält sie Sozialhilfegeld. Erreicht die Person später wieder eine gewisse Einkommensgrenze, muss sie das erhaltene Sozialhilfegeld je nach finanzieller Situation zurückbezahlen. Andere Gelder, beispielsweise Elternschaftsbeihilfe, müssen hingegen nicht zurückerstattet werden. Deshalb kann diese subsidiäre Leistungsüberprüfung in manchen Fällen zum Vorteil der Antragstellenden sein. «Doch schliesslich ist es eine Kontrolle, mit der wir dafür sorgen, dass die gesetzlichen Rahmenbedingungen eingehalten werden», so Turnell.

Dankbarkeit wird nicht erwartet

Viele Personen hätten kein Verständnis für diese Abklärungen und lassen es die Mitarbeitenden der Sozialen Dienste spüren. «Heute wurde ich am Telefon schon zweimal angeschrien», sagt die 33-Jährige. Sie nimmt es gelassen und sagt: «Wir erwarten keine Dankbarkeit. Als Sozialarbeiterinnen stehen wir im Spannungsfeld zwischen Hilfestellung bieten und Kontrolle ausüben.» Und trotzdem sei es für die Arbeitsmoral wichtig, auch positive Rückmeldung zu erhalten. «Deswegen brauchen wir diese eine Person, mit der wir ein Erfolgserlebnis haben und die unserer Arbeit Sinn gibt.» Bei ihr ist es eine junge Frau, die sie unterstützen konnte, eine Ausbildung erfolgreich abzuschliessen, und deshalb nicht mehr auf fremde finanzielle Hilfe angewiesen ist. Befriedigend sei es auch, wenn sie der Bevölkerung helfen könne, Behördenkorrespondenz zu verstehen: «Der rechtliche Rahmen wird immer komplexer. Deshalb helfen wir, wenn jemand den Inhalt eines Schreibens nicht versteht. Oftmals kann mit wenig Hilfestellung sehr viel geholfen werden.»

Vulnerable Bevölkerungsstruktur

Diese Komplexität und die Vielfältigkeit sind es denn auch, die Belinda Turnell an ihrer Arbeit gefallen. «Die Bevölkerungsstruktur in Spreitenbach ist vulnerabel, sodass man immer wieder auf Sonderfälle im Sozialversicherungsgesetz trifft. Das macht die Arbeit hier so spannend.» Das ist auch der Grund, weshalb sie im November 2022 nach Spreitenbach zurückgekehrt ist, um die Leitung der Abteilung Soziale Dienste zu übernehmen. Sie hatte bereits zuvor auf der Gemeinde Spreitenbach gearbeitet. «Nach drei Jahren wechselte ich als Sozialberaterin zur Stadt Dietikon. Die Arbeit in Spreitenbach hat mir jedoch immer gefehlt.»

Ihr Interesse am Beruf entstand, als sie als Jugendliche im Auftrag der Sozialen Dienste Muri zwei Kinder begleitete, die Kultur und Sprache lernen sollten. So war sie regelmässig im Austausch mit den Mitarbeitenden der Sozialen Dienste und arbeitete dort dann auch vier Jahre während ihres berufsbegleitenden Studiums. Danach wechselte sie zum Sozialdienst Bezirk Affoltern am Albis und schliesslich im März 2019 nach Spreitenbach.

Neue Struktur

Belinda Turnell hat die Abteilung neu strukturiert: Die Fachbereiche Jugendarbeit und Schulsozialarbeit wurden wieder in die Abteilung Soziale Dienste reintegriert und der Asylbereich als Pilotprojekt an die ORS Service AG ausgelagert. Das Team des Bereichs Soziale Dienste ist mit 12 Personen und 800 Stellenprozenten seit letztem August nach längerer Zeit wieder komplett, die Stimmung sei gut. Als Teammensch ist Belinda Turnell das wichtig, man unterstütze sich bei schwierigen Situationen gegenseitig. Etwa, wenn sie von schweren Schicksalsschlägen ihrer Klientel erfahren, häusliche Gewalt im Spiel sei «oder auch wenn wir merken, dass Personen mit uns nicht ehrlich sind». Solche Fälle würden sie manchmal auch nach Feierabend noch beschäftigen. Als Ausgleich und Ablenkung unterstützt sie ihre Mutter, die eine Eichhörnchenstation betreut. «Ich bin in einem Haushalt mit vielen Tieren aufgewachsen und habe manche Nacht damit verbracht, Wildtiere zu schöppeln», sagt sie. Neben ihrem Job und ihrer Weiterbildung im Bereich Sozialrecht bleibt heute nur noch wenig Zeit dafür – Abwechslung hat sie trotzdem genug.

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