Ein Dorf mit zwei Gesichtern

Spreitenbach wandelt sich vom Bauerndorf zum urbanen Vorort von Zürich. Mittendrin: die 13,4 Kilometer lange Limmattalbahn. Ein Porträt über die klischeebehaftete Gemeinde anhand der Menschen, die in ihr leben und arbeiten.

Im Jahr 1124 taucht «Spreitenbachin» das erste Mal in einer Urkunde auf. Ende 2020 wohnen 12 093 Menschen in der Gemeinde. CH Media/Severin Bigler/Archiv
Im Jahr 1124 taucht «Spreitenbachin» das erste Mal in einer Urkunde auf. Ende 2020 wohnen 12 093 Menschen in der Gemeinde. CH Media/Severin Bigler/Archiv

Ein Schweissgerät dröhnt. Der Lärm vermischt sich mit Geschrei aus dem nahen Kindergarten. Eine Baustelle zeichnet sich wenige Meter weiter vorne deutlich ab: in der Strassenmitte eine meterlange, gleichmässige Erhöhung. Bestimmt der Perron. Am Strassenrand Ausbuchtungen. Frischer, dunkler Teer. Daneben Bauarbeiter. Man hört die eigene Stimme kaum. Hier, nach 10,1 Kilometern, entsteht der erste Halt der Limmattalbahn auf Spreitenbacher Boden:

Kreuzäcker

Wie lebt es sich in einer Gemeinde, die ein Grossteil der Schweiz hauptsächlich mit negativen Ereignissen in Verbindung bringt? Ein pensionierter SBB-Mitarbeiter, ein Weinshopleiter, ein Student, eine Hundebesitzerin und eine Weggezogene erzählen von ihrem Spreitenbach.

Bernhard Gerig wohnt seit 1981 im Ort. Der 65-Jährige wird ab Dezember 2022 die Haltestelle Kreuzäcker benutzen. Von seinem etwas südlich gelegenen Wohnquartier Seefeld bis hierhin dauert der Marsch zehn Minuten. An diesem Morgen Anfang Dezember sind es mehr. Tritt Gerig vor die Tür seines Wohnhauses, erblickt er einen roten Baukran, eingerüstete Mehrfamilienhäuser. Aus einem Winkel des Bauplatzes sendet ein Radio seine Musik. Arbeiter diskutieren in einer fremden Sprache.

Die Limmattalbahn, das sind 27 Haltestellen, 13,4 Kilometer, sechs Gemeinden, zwei Kantone. Von Killwangen bis Zürich Altstetten. Sie soll das Limmattal näher an Zürich bringen. Die Agglomeration näher an die Stadt. Sie durchsticht Spreitenbach von Ost nach West. Erst verläuft sie parallel zur Landstrasse, der vier Kilometer langen Lebensader der Gemeinde. Dann auf ihr. Wegen ihr ist Spreitenbach eine Baustelle. Von der Kantonsgrenze bei Dietikon bis zum Nachbardorf Killwangen entfaltet sie sich über das Gemeindegebiet. Verschlingt Trottoirs, Fussgängerstreifen, Kandelaber. Lässt die Strassenführung täglich anders aussehen. Bringt damit manch geübten Automobilisten zur Verzweiflung.

An der nächsten Kreuzung, dem Wigartenkreisel, bleibt Gerig stehen. Hier soll in Zukunft der Ortsbus halten. Der gross gewachsene Pensionär zeigt auf den Strassenrand. Der Bus würde zwischen Dorfzentrum und Kreuzäckerstrasse pendeln. Und so die Leute aus Spreitenbach-Ost zur Limmattalbahn befördern. Gerig ist gut informiert. «Ich fand immer, man muss sich mit dem Ort befassen, in dem man wohnt.» 1983 wird er Teil des Veloclubs. Später sein Präsident. Heute ist er Mitglied der Natur- und Umweltkommission und im Vorstand der Spitex.

Der kürzeste Fussweg zur Haltestelle führt an modernen Hauseingängen und einer alten Holzscheune vorbei. Dann mündet er in die Landstrasse. «Viele Leute finden, die Bahn fährt am falschen Ort durch.» Der ehemalige SBB-Mitarbeiter überquert die Strasse. Unten, entlang der Industrie. Nicht oben im Dorf. Er findet das nicht.

Am anderen Ende des Fussgängerstreifens steht die Überbauung Kreuzäcker: Ein Quartier mit rechteckigen dunkelblauen Mehrfamilienhäusern. Dazu Kindergarten, Ärztehaus, Hotel. «Vorher waren hier Obstkulturen und Wiesen.» Entstand in der Vergangenheit in Spreitenbach ein Quartier, seien viele Alteingesessene aus älteren Dorfteilen in die neuen Gegenden umgezogen. Von den Hochhäusern im Westen in die moderneren Mehrfamilienhäuser im Dorfzentrum. Weiter in die Häuser, die seit der Jahrtausendwende im Osten entstehen. Auch Gerig gehört dazu. «Im Osten haben wir länger Sonne als im Westen. Das gefällt mir.» Eine Absetzbewegung Richtung «Kreuzäcker» habe er nicht festgestellt. Hier wohnten vor allem Neuzuzüger.

Im Verlauf des Spaziergangs sagt der Pensionär: «Für mich ist Spreitenbach ein Dorf.» Eigentlich zwei: Oben im alten Dorfkern kenne jeder jeden. «Das klingt komisch. Spreitenbach hat 12000 Einwohner. Aber es ist so.» Im unteren Teil der Gemeinde, dort, wo es vermehrt Hochhäuser und Industrie gibt, sei der zweite Teil. Dort sei alles unpersönlicher.

Am Ruf der Gemeinde haftet viel Negatives: Schlägereien, Industrie, «Usländer-Ghetto», Bauboom, Hochhäuser. Von daher stammt vermutlich der Übername, «Manhattan des Aargaus». Die beiden Wolkenkratzer des Shoppi, so nennt der Volksmund das Shoppingcenter, gehören zum Ortsbild wie das Bundeshaus zu Bern. Der rote wird «Blutwurst» genannt. Der graue «Leberwurst». Das negative Image von Spreitenbach ist nicht neu: Bereits in den 1970er-Jahren sagte der damalige Gemeindepräsident, es gebe nur schlechte Nachrichten übers Dorf. Auch wer heute erzählt, er stamme aus der Siedlung an der A1, dem ist eine naserümpfende Reaktion gewiss. Gerig: «Spreitenbach wird oft schlecht dargestellt. Wir Einwohner finden aber nicht, dass wir in einer schlechten Ecke wohnen.»

600 Meter weiter westlich, bei Kilometer 10,7, folgt die nächste Station:

Grabäcker

Wo seit 2019 die Überbauung Limmatspot steht, zeigt Google Maps noch immer eine leere Wiese. «Limmatspot» – das sind 195 Wohnungen und 10 Kinosäle unter einem Dach. Berühmt ist das Gebiet allerdings wegen der Ikea. Seit 2006 hat das schwedische Möbelhaus hier einen seiner neun Schweizer Standorte.

Matthias Kaufmann arbeitet seit Herbst 2019 im «Limmatspot». Der 40-Jährige leitet die Filiale eines Weinshops im Erdgeschoss. Die Firma gibt es seit 40 Jahren. Die Filiale hingegen ist die erste. «Die gute Erschliessung von Spreitenbach war ausschlaggebend für die Wahl unseres Ladenlokals», sagt er während eines Spaziergangs entlang der Geleise der neuen Bahn. Spreitenbach ist eine der östlichsten Gemeinden im Aargau. Sie hat eine eigene Ausfahrt von der Autobahn A1, der Hauptverkehrsachse von Zürich nach Bern. Mit der S-Bahn dauert die Fahrt 21 Minuten bis Zürich Hauptbahnhof, nach Baden 9.

Unmittelbar vor dem Weinladen entsteht «Grabäcker». Neben den erhöhten Perrons sind bereits die zwei Geleise am linken Strassenrand Richtung Killwangen sichtbar. Kein Lärm, keine Maschinen an diesem Vormittag. Obwohl die Arbeiten an der Limmattalbahn schon liefen, bevor Kaufmann den Laden eröffnete, habe er sie bisher noch nie von nahem gesehen. «Die Baustelle beeinträchtigt uns stark», sagt der Familienvater aus Aarau. Kunden fänden den Laden schlechter. «Ich bin erleichtert, wenn die Arbeiten abgeschlossen sind.» Er kann sich vorstellen, dass Leute für Degustationen mit dem öffentlichen Verkehr anreisen. «Dazu ist die Haltestelle vor der Haustür ideal.»

400 Meter von «Grabäcker» entfernt, erhält auch das Shoppingcenter seine eigene Haltestelle:

SCS/Tivoli

Das Center ist in zwei Teile geteilt. Östlich der Landstrasse ist das Tivoli, westlich das Shoppi. Verbunden sind sie mit einer überdachten Brücke. Die Haltestelle kommt unter ihr zu stehen. Erkennbar ist sie noch nicht. Nur abgesperrt. Lukas Zweifel, 25, Vollbart, Mütze tief in die Stirn gezogen, steht unter der Brücke. Er blickt der Limmattalbahn mit gemischten Gefühlen entgegen: «Ich werde wohl nach wie vor die S-Bahn nehmen. Sie ist 

schneller. Aber die Kantone haben sich schon etwas überlegt, als sie sich für die Limmattalbahn entschieden.» Die Linienführung versteht er. Eine Bahnlinie mitten durchs Dorf hätte die Bevölkerung nicht befürwortet, glaubt er.

Zweifel wohnt in Spreitenbach, seit er sechs Jahre alt ist. Er war in der Jugi, ist heute noch Mitglied des Unihockeyteams. «Immer wenn ich sage, ich wohne in Spreitenbach, machen die Leute Witze.» Manchmal imitieren sie auch den fiktiven Charakter «JK» aus dem Programm des Komikerduos Divertimento. Mit Schwester und Eltern wohnt der Pädagogikstudent unweit von Heitersberg, Dorfbach und Sternenplatz. Dort steht in der Weihnachtszeit eine überdimensionale, beleuchtete Tanne. Auch der Limmatbeck und der «Sternen», die Dorfbeiz, sind hier zu finden. Diesen Flecken meinen die Spreitenbacher, wenn sie vom «alten Spreitenbach» oder vom «Dorfkern» sprechen. Zum ersten Mal taucht «Spreitenbachin» bereits 1124 in einer Urkunde auf. 1485 besteht das Dorf aus 17 Bauernhöfen.

Der Weg vom «Dorfkern» zum Shoppi dauert zehn Minuten. Am Rand des Gehwegs liegt Schnee. Er fiel in der Nacht. Der Weg führt an verdorrten Sonnenblumen vorbei. «Aargauer Wanderweg» steht mit schwarzen Lettern auf gelbem Grund. Darunter hat jemand mit schwarzem Stift das Wort «Nicht» gekritzelt. «Ich bezeichne mich als Spreitenbacher. Mit diesem Namen verbinde ich mein Daheim.» Der schlechte Ruf stört Zweifel nicht. So habe man stets etwas zum Smalltalken, wenn man jemanden kennenlernt. Das Leben in Spreitenbach sei nicht anders als sonst wo. «Wir haben hier alles: Im Shoppi kann man einkaufen. Im Wald kann man sich erholen. Die Gegend ist super zum Velofahren.» Für ihn ist Spreitenbach Teil der Agglomeration von Zürich. Der städtische Charakter werde weiter zunehmen, ist er überzeugt. «Einerseits wegen des erwarteten Einwohneranstiegs. Andererseits wird die Limmattalbahn die Gemeinde näher an Zürich bringen. Spreiti wird zu einer Stadt. Das muss man akzeptieren.»

Kilometer 11,4, nächster Halt:

Furttalstrasse

Auf dem mittleren von drei Fahrstreifen liegt Erde, nicht Asphalt. Links und rechts davon stehen rot-weiss gestreifte Absperrschranken. Hier entsteht die «Furttalstrasse». Damit erhalten Umweltarena und Langäckerquartier eine Haltestelle. Es ist jenes Quartier, das durch seine vielen Wolkenkratzer aus den 1970ern auffällt. Vanissa Toufeili lebt hier. Gemeinsam mit Mutter, Bruder und Hundewelpen Snowy. Von ihrer Haustür zur Haltestelle Furttalstrasse sind es fünf Minuten zu Fuss. Toufeili fragt sich trotzdem, wieso es die Bahn braucht. «Die S-Bahn fährt ja schon regelmässig nach Zürich.» Die 24-Jährige ist kein Fan der vielen Neubauten im Dorf. Früher sei es ruhiger, persönlicher gewesen. Heute sei das Dorf verbaut. «Ich fühle mich nicht mehr so wohl.» Ende 2020 wohnten 12 093 Menschen in der Gemeinde. Die ausländische Bevölkerung macht 53 Prozent aus. Italiener gibt es am meisten, dann folgen Serben und Kosovaren. «Shippibach» ist ein weiterer Übername für den Ort.Hund Snowy bleibt stehen, schnuppert am Schnee am Trottoirrand. Die Haltestelle ist nun einen Katzensprung entfernt. Snowy zieht an der Leine. Seit ihrem vierten Lebensjahr wohnt Toufeili in Spreitenbach. Die Mutter ist Libanesin. Zu Hause sprechen sie Deutsch. Die Mutter betreibt einen Kosmetikladen in der Nähe des Shoppi. Die Tochter ist gelernte Fachfrau Kundendialog. Heute hilft sie im mütterlichen Laden aus. Den Schweizer Pass hat sie, seit sie 15 Jahre alt ist. «Damit wird man respektvoller behandelt.» Vorläufig bleibe sie in Spreitenbach. Wegen der Familie.

Spreiti West

Eine Woche vor Weihnachten. Der Schnee von vergangener Woche ist geschmolzen. Susanna Ziccone, geborene Giannola, steht dick eingepackt vor dem Schulhaus Hasel. Hier, in Spreitenbachs Westen, ist sie aufgewachsen. Das Quartier liegt erhöht, direkt unter dem Heitersberg. Es gibt Ein- und Mehrfamilienhäuser. In den 1980ern und 1990ern wurde das Gebiet erschlossen. «Seit 30 Jahren hat sich hier nichts verändert.» Der Weg an die Landstrasse führt an ihrem Elternhaus vorbei, dann einen steilen Fussweg hinunter. Am Fuss des Hügels eröffnete die Ikea 1973 die erste Filiale ausserhalb Schwedens. Heute ist das braune Gebäude Heimat eines Fitnesscenters, eines Haushaltsgeschäfts, diverser Büros. Das Möbelgeschäft ist gen Osten gezogen. «Spreiti West» heissen Industriezone und Bushaltestelle. Auch die letzte Limmattalbahn-Haltestelle auf Spreitenbacher Grund wird so heissen. Sie entsteht derzeit am westlichsten Teil der Landstrasse, an der Grenze zu Killwangen. Sie soll vor allem dieses Industriegebiet erschliessen. Ziccone wohnt seit zwölf Jahren in Killwangen. Sie wollte ausziehen und dort war etwas frei. Heute ist sie 40 Jahre alt. «Mit Spreitenbach bin ich trotzdem stark verbunden.» Einerseits wohnen die Eltern noch immer im Haus ihrer Jugend. Andererseits betreibt sie in «Spreiti West» einen Laden für Reinigungsgeräte.

Ziccone steht vor einem Absperrgitter und blickt auf die Landstrasse. Hier, bei Kilometer 12,4, kommt eine weitere Haltestelle hin. Brauner Untergrund, so weit das Auge reicht. Ein Bagger fährt vorbei. In einem grauen Industriegebäude neben der braunen Strasse stand früher das Logistikcenter der Ikea. Der Rest war grün. «Für mich, die hier aufgewachsen ist, ist die Veränderung sehr eindrücklich.» Die Entwicklung vom Bauerndorf zur modernen Vorstadt erfülle sie mit Stolz. «Klar, es hat viele Ausländer. Aber in einem grösseren Dorf ist das so.» Sie selbst hat nur den italienischen Pass. Sie lacht. «Ich müsste mich mal ‹ad Säck› mache.» Die Eltern und der Ehemann sind eingebürgert, der Sohn ist Doppelbürger.

Trotz der Entwicklung: Spreitenbach ist für die 40-Jährige noch immer ein Dorf. Obwohl sie seit zwölf Jahren im Nachbardorf wohnt, kennt man sie. Einmal hupt die Fahrerin eines vorbeibrausenden SUVs. Später trifft Ziccone auf eine alte Schulfreundin und hält einen Schwatz aus sicherer Distanz. Auch sie wohnt nicht mehr in Spreitenbach, die Eltern schon. Klar, man höre viel Schlechtes aus Spreitenbach. Meist gehe es um Auseinandersetzungen beim Shoppi, um den hohen Ausländeranteil. Aber auch sie komme immer wieder hierher zurück. «Gell, Susi, es ist halt unsere Heimat.» Der Familie und der Erinnerungen wegen.

Die letzte Haltestelle der Limmattalbahn ist 13,4 Kilometer vom Start in Zürich Altstetten entfernt: der Bahnhof Killwangen-Spreitenbach. Er liegt auf Killwangener Boden. Die Eröffnung der Bahn ist im Dezember 2022 geplant. Spreitenbach an sich wird weiterwachsen. Vertraut man den Prognosen, werden 2030 15000 Menschen hier leben. Wie sich die Gemeinde dann wohl präsentiert? Heute hat sie jedenfalls zwei Gesichter: Hochhäuser versus Dorfkern, Shoppingcenter versus Naherholungsgebiete, Bauboom versus aktives Vereinsleben. Das eine Gesicht ist für die ganze Schweiz sichtbar. Nach dem anderen muss man suchen.

* Rahel Bühler absolviert die Diplomausbildung am Medienausbildungszentrum MAZ in Luzern und erhält heute ihr Diplom. Dieser Artikel ist ihre Abschlussarbeit. Ein Video und eine Karte von Spreitenbach finden sich online unter limmatwelle.ch

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