Das gespenstische Miteinander

Der Spreitenbacher Maler Ruedi Koller stellt den Corona-Lockdown dar. Eine Bildbetrachtung.

«Lockdown 2020» des Spreitenbacher Malers Ruedi Koller.  (Bild: Ruedi Koller/zVg)
«Lockdown 2020» des Spreitenbacher Malers Ruedi Koller. (Bild: Ruedi Koller/zVg)

Rudolf Koller malte im ausgehenden 19. Jahrhundert eines der heute berühmtesten Gemälde der Schweiz, ein Bild, das bis heute im Schulunterricht gezeigt wird: die «Gotthardpost». Es zeigt eine Postkutsche, die auf einer engen Bergstrasse ins Tal rast. Dynamisch, fast ungestüm preschen die Pferde mit wehenden Mähnen auf den Betrachter zu, ein heillos in Panik geratenes Kälbchen flieht, der Kutscher knallt mit der Peitsche.

Sein Namensvetter Ruedi Koller hingegen, ebenfalls Maler, aber aus Spreitenbach, malte mit seinem Bild «Lockdown 2020» fast das Gegenteil der «Gotthardpost». Wo bei ihr alle Elemente des Gemäldes als symmetrisches, dynamisches Ganzes zusammenspielen, wirkt «Lockdown 2020» passiv, ein Bild, das nicht davon lebt, was passiert, sondern davon, was nicht passiert. Während Ruedi Kollers Bild nicht dem Realismus zuzuordnen ist – es hat vielleicht symbolistische und expressionistische Anteile –, so erinnert es doch in gewisser Weise an die Bilder Edward Hoppers, die Anfang des ersten Lockdowns plötzlich einen unerwarteten Aufschwung erlebt haben. Ein besonders berühmtes Bild Hoppers ist zum Beispiel «Nighthawks». Ein häufiges Thema bei Hopper sind Menschen, die sich in urbanen Szenerien befinden, dort aber irgendwie einsam wirken, irgendwie fehl am Platz, obwohl doch das Urbane wie gemacht ist für sie. Aber sie sind meist derart entfremdet, dass es fast unheimlich wirkt. «Wir sind jetzt alle Edward-Hopper-Gemälde», schrieb der Autor Michael Tisserand im letzten März auf Twitter.

Die Figur im Bild von Ruedi Koller steht an einem überdimensionierten Fenster, der Fensterrahmen verzieht sich gegen oben hin und gibt diesem «Fenster zur Welt» einen surrealen Anstrich. Hier stimmt etwas nicht. Die dünnen Arme, unnatürlich nach aussen gebeugt, stützen sich kraftlos auf den Sims. Den Kopf stützt die Figur auf der rechten Schulter ab und schaut sehnsüchtig auf die gähnend leere Strasse, die nur besetzt ist vom Schattenwurf der Häuser, die Absenz noch stärker akzentuierend. Alle Häuser, die die Strasse säumen, sind gleichförmig bedacht, gleichförmig befenstert, sie allesamt sind dunkel, niemand sonst steht am Sims und schaut auf die Welt hinaus, es ist, als hätte die Welt die Menschen aus sich geleert. Anders als Hopper zeigt Kollers Bild nicht nur Entfremdung oder Einsamkeit in Gesellschaft, sondern totale Isolation. Bis an den Horizont ist nur eine Häuserschlucht zu sehen, kein Anzeichen von Leben. Die Stille des Bildes ist nicht eine der Gelassenheit, sie ist gespenstisch, sie offenbart das Asynchrone zwischen dem, was ist und was sein soll, zwischen dem, was war und sein wird.

Obwohl die Figur wohl, das ist wegen des Lockdowns anzunehmen, zuhause weilt, trägt sie eine Maske – ein Symbol für Sprachlosigkeit? Nur langsam kehrt die Sprache zu uns zurück, um zu formulieren, was wir hier alles fühlen, aber auch das hat einen krud-surrealen Ton ohne richtigen Referenzpunkt. Wie der slowenische Philosoph Slavoj Žižek schreibt: «Wir fühlen uns frei, weil uns genau jene Sprache fehlt, mit der wir unsere Unfreiheit artikulieren könnten.» Die streng geometrisch angeordneten Fenster erinnern an ein Gefängnis, unsere Figur aber steht frei atmend an einem grossen Fenster. Zufall?

Rechts spiegelt sich die Figur in der Scheibe, und was links wie ein sehnsüchtiger Blick wirkt, sieht rechts resigniert aus. Die Augen sind absent, das Gesicht ist leer, das, was in die Seele und in die Zukunft blicken lässt, fehlt. Doch in der Isolation stecken nicht nur Hoffnungslosigkeit und Resignation, sondern eben die Sehnsucht, das Begehren, wieder mit anderen Menschen zusammenkommen zu dürfen. Eine Antizipation: vorne die helle Zukunft in freundlichen Farben, im Rücken der Schatten. So sehr die Augen fehlen, um das Schöne, was vor uns liegt, sehen zu können, so ist es doch da. Wieder: die Polarität von Freiheit und Unfreiheit.

Der Kulturtheoretiker Mark Fisher schrieb in seinem Buch «The Weird and the Eerie» über das Seltsame (engl. «eerie») im Unterschied zum Gespenstischen (engl. «weird»), um den Begriff des «Unheimlichen» bei Sigmund Freud aufzudröseln. Das Sonderbare sei «das, was nicht dazugehört», während beim Gespenstischen die Erwartung, etwas müsse doch anwesend sein, enttäuscht wird. Über verlassene Gebäude und Städte schrieb Fisher: «Wir finden das Gespenstische in Landschaften, die teils vom Menschlichen entleert sind. Was ist passiert, um diese Ruinen, dieses Verschwinden zu produzieren? Was für ein Ding war es, das so einen gespenstischen Schrei ausgestossen hat?» Die Frage hier: Gibt es etwas, was im Gespenstischen agiert?

Insofern kann Kollers Bild auch politisch verstanden werden – als eines, das sich vielleicht gegen den Isolationismus richtet, uns daran erinnert, dass die Schweiz keine Kultur-, sondern eine Willensnation ist, ein Land, das sich nur aus der Solidarität zueinander je hatte ergeben können. In diesem Sinne ist die Schweiz kein rein individualistisches Land, sondern eines, das den Kompromiss kennt, das weiss, dass das Zurückstellen individueller Bedürfnisse auf lange Sicht nicht nur für das Kollektiv besser ist, sondern auch für das Individuum. Es ist eine Erinnerung, dass Margaret Thatchers berühmtes neoliberales Mantra – «There’s no such thing as society» – eben nicht stimmt. Dass wir alleine, isoliert voneinander auf Dauer nicht funktionieren können, sondern dass es das Miteinander, das Teilen, die Gegenseitigkeit und Hilfsbereitschaft braucht, wenn wir überleben möchten. Da draussen wartet eine schöne Welt auf uns. Manche haben das leider erst jetzt verstanden. Und andere immer noch nicht.

* Der Autor arbeitet auch als freier Kulturjournalist und hat das Bild von Ruedi Koller aus seiner Sicht interpretiert.

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