Der 100-jährige Workaholic
Heute wird Willy Köbeli 100 Jahre alt. Warum er sagt, dass er erst nach seiner Pensionierung zu arbeiten begann und warum er in der Dominikanischen Republik gerne Geissen hüten würde.

«Schau mal, an deinem letzten Geburtstag hast du getanzt», sagt Wilson Santos und zeigt auf seinem Handy auf ein Video, auf dem Willy Köbeli zum Lied «Schacher Seppli» singt und tanzt. Im Hintergrund sind goldene Ballone zu sehen, die Gäste applaudieren. Zum 99. Geburtstag hat Köbeli Nachbarinnen und Nachbarn eingeladen. «Ich war mal Tanzlehrer», sagt der Senior stolz, während er in einem roten Ledersessel im Wohnzimmer der Eigentumswohnung in einem der Blöcke an der Zürcherstrasse beim Dorfausgang Richtung Killwangen sitzt. Neben ihm steht ein Holztischchen, auf dem mehrere Fotoalben liegen. Im Sessel neben ihm sitzt Sohn René, daneben dessen Frau Franzisca, die Mutter von Wilson Santos. Gespannt hören sie zu, was der Senior aus seinem Leben erzählt.
Vom Schriftsetzer zum Hausbauer
«Fünfzig Jahre habe ich beim Surländer Verlag in Aarau als Typograf gearbeitet und vom Steindruck bis Bleisatz alles miterlebt.» Sein Fazit: «Es wird nicht mehr lange Druckereien geben.» Auch wenn er damals nicht auswählen konnte, so habe ihm der Beruf gefallen und war sogar Präsident des Schweizerischen Typografenbunds. «Ich begann als Hilfsarbeiter. Als mein Chef mein Talent sah, durfte ich eine Lehre machen.» Schliesslich wurde er Chef und reiste für den Kauf von Maschinen auch ins Ausland.
«Und nach meiner Pensionierung begann ich zu arbeiten», sagt er und nimmt eines der Fotobücher, in dem Häuser abgebildet sind. «Hast du denn vorher nicht gearbeitet», fragt Wilson Santos verwundert. «Ich war der Chef», antwortet der 100-Jährige trocken und zeigt auf ein Schwarz-weiss-Foto, auf dem ein Haus abgebildet ist . «Ich habe einen alten Stall oberhalb von Hospental gekauft und dieses Haus daraus gebaut.» Bauen, das sei zum Lebensinhalt geworden nach der Pensionierung. Nicht nur in der Gotthardregion, sondern auch in Buchs, wo er beim Bau von Mehrfamilienhäusern mitarbeitete, oder in Florida. Dort hatte Sohn René zuvor einen Immobilienmakler kennengelernt. Fünf Jahre wohnte Willy Köbeli dort in der Villa, die er am West Palm Beach gebaut hatte. «Um es vor Wasser und Stürmen zu schützen, habe ich zuerst eine 60 Zentimeter dicke Grundmauer betoniert.» Um bleiben zu dürfen, führte er ein Hotel mit mehreren Angestellten. Woher hatte er das handwerkliche Wissen? «Hier drin», sagt er und klopft mit den Fingern auf seine Stirn. Er sei eben ein talentierter Mensch, der gerne arbeitet, sagt er stolz. Auch mit 100 Jahren ist ihm sein grosses Selbstbewusstsein nicht abhanden gekommen.
Essen als Lohn
«Chrampfe» habe er als Kind gelernt. Weil das Geld im Elternhaus in Rupperswil knapp war, hat er ab der dritten Klasse bei einem Bauern ausgeholfen. «Wunderbar» sei das gewesen, er habe viel gelernt und immer gut gegessen bei der Bauernfamilie, am liebsten Speck. «Vor der Schule melkte ich sieben Kühe und nach Schulschluss half ich dem Bauer auf dem Hof.» Als Lohn erhielt er Essen für sich, seine Eltern und die sieben Brüder. «Jetzt bin noch der Einzige von uns, der noch lebt», sagt er.
Alleine ist er dennoch fast nie. Er lebt mit seiner 83-jährigen Frau zusammen: Die Tessinerin erholt sich gerade von einer Operation im Spital kommt deshalb erst am nächsten Tag heim. Besuch bekommt er vom Sohn, der Schwiegertochter und deren Kinder. Franzisca Santos stammt aus der Dominikanischen Republik, ihre sechs Kinder wuchsen dort und in der Schweiz auf und leben mittlerweile fast alle in Neuenhof, der 46-Jährige Wilson in Killwangen. Für sie ist Willy Köbeli wie ein Grossvater. «Ich bin oft hier und helfe, wo ich kann», bestätigt Wilson Santos und fügt an: «Aber du bist manchmal ein bisschen ungeduldig, gäll.» Auch wenn er mit 95 Jahren das Autobillett freiwillig abgab, ist er immer noch unterwegs. Trotz Alter ist er nämlich körperlich topfit, geht mit dem Elektroroller einkaufen. «Sogar mehrere Getränkeflaschen, wenn er keine Geduld hat, zu warten», sagt Wilson Santos und lacht. «Er ist eben ein Workaholic», fügt Sohn René an, «er hat eine innere Unruhe, möchte immer arbeiten und bedauert, dass er nicht mehr bauen kann.»
Das ist auch der Grund, weshalb im Februar am liebsten in der Dominikanischen Republik geblieben wäre, als er dort mit seiner Familie Ferien machte. «Ich hätte gerne eine Herde Geissen gekauft und mit ihnen auf einer Finca gelebt», sagt er. Weil ihn die Familie aber nicht alleine zurücklassen wollte, kam er zurück nach Neuenhof. Die Familie ist auch der Grund, weshalb Willy Köbeli letztes Jahr mit seiner Frau von Buchs nach Neuenhof zog, wo auch René und Franzisca Köbeli leben.
«Schöne Frauen»
Nach dem Rezept für ein langes Leben gefragt, muss er nicht überlegen: «Arbeiten.» Auch die Schattenseiten hat er schnell formuliert; er habe gerne schöne Frauen, hätte jedoch nicht immer Glück gehabt mit ihnen und ist zum dritten Mal verheiratet.
Willy Köbeli steht auf, um fürs Foto auf dem Balkon zu posieren. Er blickt zum Himmel, wo nach einem Gewitter die Sonne wieder scheint. Auf Sonne hofft er auch am heutigen Geburtstag. Mit seiner Familie will er eine Schifffahrt auf dem Zürichsee machen. Wer weiss, vielleicht kann er dann wieder seine Tanzkünste zeigen und alle zum Staunen bringen.