Hier werden Lebensmittel gegessen statt weggeworfen

Bedürftige können in Wettingen seit fünf Monaten kostenlos Lebensmittel beziehen, die sonst vernichtet würden. Ein Augenschein vor Ort.

Montagmorgen, kurz nach neun Uhr: Sieben Personen verteilen auf einer Tischreihe in einem grossen Saal der Freien Evangelischen Gemeinde (FEG) Lebensmittel. Sie stammen vom Verein «Tischlein deck dich» und wurden soeben von einem Chauffeur angeliefert. Die Auswahl ist gross: Salate, Gemüse, Früchte, Schokolade, Brei, Fertigrösti, Gewürze, Tomatensauce, Enchiladas, Eier, Brot und verschiedene Getränke. In Kühlboxen liegen Joghurt, Tortellini und Würste. Nachdem das Essen gezählt ist, wird die Stückanzahl auf einem Zettel notiert und vor die Ware geklebt.

Die ersten Gäste trudeln ein und setzen sich auf die Stühle vor dem Eingang. Bis um zehn Uhr haben sich rund zwanzig Personen eingefunden. Zwei Helfer nehmen ihre Karten entgegen, auf der die Berechtigung ausgewiesen ist. Das anschliessende Losziehen entscheidet über die Reihenfolge des Lebensmittelbezugs. Die Person mit dem Los Nummer eins wird von einem Helfer abgeholt. Anhand der Karte sieht er, wie viele Personen im Haushalt leben. Dementsprechend wird die Anzahl der abgegebenen Lebensmittel berechnet.

 

An diesem Montagmorgen muss sich Ruth * (Name geändert, der Red. bekannt) etwas gedulden. Sie hat eine hohe Nummer gezogen. Doch dann ist sie an der Reihe und geht mit dem Helfer von Tisch zu Tisch und wird von ihm gefragt, welche Lebensmittel sie gerne mitnehmen möchte. Die Stückzahl ist bei fast allen Produkten genug gross, sodass alle etwas davon abbekommen. Wer am Anfang an der Reihe ist, kann aber beispielsweise beim Gemüse aussuchen. «Letztes Mal hatte ich schampar Freude, weil ich einen Bund Spargel bekam. Die sind teuer und ich kann sie mir nicht leisten», sagt die 59-Jährige. Sie hat früher selber im Detailhandel gearbeitet. Später hat sie für ihre Tochter eine Pause eingelegt. Danach hat sie den Wiedereinstieg nicht mehr gefunden. Seither ist sie arbeitslos. Weil auch ihr Mann durch Fusionen auf dem «Abstellgleis» landete, wie Ruth die Arbeitslosigkeit bezeichnet, sei das Geld sehr knapp. «Wir sind zu alt, um Arbeit zu bekommen, und zu jung, um AHV zu erhalten», sagt die 59-Jährige. Sie sei deshalb froh, dass sie hier am Montag für einen symbolischen Franken einen Sack voll Lebensmittel beziehen könne.

Ruth ist eine von rund 30 Personen, die in Wettingen für gesamthaft 90 bis 100 Personen Lebensmittel beziehen. Das Essen stammt vom Verein «Tischlein deck dich». Dieser bekommt die Lebensmittel von Herstellern und vom Grosshandel gespendet. Es sind Lebensmittel, die eine kurze Resthaltbarkeit haben oder aus Überproduktionen und Falschdispositionen stammen. Wettingen ist eine von 120 Abgabestellen des Vereins. In der ganzen Schweiz werden jährlich rund 3,7 Tonnen Lebensmittel im Warenwert von rund 25 Millionen Franken an 17600 Personen verteilt.

Dass es auch in Wettingen eine solche Abgabestelle gibt, ist Helen Suter zu verdanken. Die ehemalige Einwohnerrätin ist Initiatorin und Abgabestellenleiterin. «Anstatt Essen wegzuwerfen, soll es an Menschen abgegeben werden, die es nutzen wollen», begründet sie ihr Engagement.

In Wettingen sind knapp 30 Freiwillige im Einsatz, schweizweit sind es rund 2900 Personen. «Wir freuen uns, wenn wir dazu beitragen können, dass Leute etwas erhalten, was sie sich sonst nicht leisten könnten», sagt Suter. In Wettingen hat man noch Kapazität für ein paar zusätzliche Lebensmittelbezüger. Anfragen neh- men die lokalen Kirchgemeinden und Sozialämter entgegen. Es können sich auch Leute mit finanziellem Engpass melden, die nicht Sozialgeld beziehen. «Ich habe hohe Achtung vor Leuten, die oh- ne Hilfe der öffentlichen Hand durchkommen wollen», so Suter. Deshalb unterstütze man auch diese Menschen gerne. Zu den Kunden zählen «Working Poors», grosse Familien, Alleinerziehende, Migranten oder Menschen, die Sozialhilfe oder Invalidenrente beziehen. Der Verein finanziert sich durch Spenden.

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