Der Hundertjährige, der ein Buch schrieb

«Das geistige Testament eines Hundertjährigen» nennt Walter Neukom das Buch, in dem er seine ­Lebensgeschichte sowie seine Haltung zum Glauben festhielt. Ein Besuch beim Spreitenbacher.

«So wie die schlechten Menschen nicht wissen, wie viel Leid sie verursacht haben, so wissen die guten Menschen nicht, wie viel Trost und Freude sie in mein Leben gebracht haben», schrieb Walter Neukom in seinem Buch auf Seite 127. Es ist das zweite Buch, das er im Berliner Frieling-Verlag publizieren liess und das kurz vor seinem 100. Geburtstag druckfrisch vorlag.

Einen Hundertjährigen, der eben noch ein Buch geschrieben hat, gibt es ihn wirklich? Es gibt ihn, er lebt in Spreitenbach und bittet die Journalistin freundlich lächelnd in seine Stube. Seit er vor drei Jahren beim Putzen einer Dachrinne von der Leiter gestürzt ist, geht er langsamer. Er höre auch nicht mehr alles. Und alle zwei Wochen bekommt er von Mitarbeitenden der Spitex Unterstützung bei der Wohnungsreinigung. Zu Mittag ist er mit seiner Freundin, die in der Wohnung nebenan lebt und die dafür gesorgt hat, dass er die Türklingel hört. In seiner Dreieineinhalb-Zimmer-Wohnung war er gerade dabei, die Post durchzuschauen. «Fast alles Rechnungen», sagt er, zeigt auf einige Couverts und nimmt dann den Brief in die Hand, den ihm sein Enkel zum Geburtstag geschickt hat. Darin sind auch zwei Fotos eines Babys, seiner jüngsten Urenkelin.

Mit neun Geschwistern aufgewachsen

Seine Verwandtschaft lebt mehrheitlich im Kanton Zürich, wo er mit neun Geschwistern als siebtes Kind auf einem Bauernhof aufwuchs. In Rafz besuchte er die Schule und half anschliessend einem Bauern auf dem Hof. Das war im Jahr 1939. Wegen der Mobilmachung musste der Bauer ins Militär einrücken – mitsamt Pferd. Ein Gaul sei wegen seines Alters als dienstuntauglich erklärt worden und durfte bleiben. «Ich fand altes Kuhgeschirr und spannte das Pferd und eine Kuh vor die Mähmaschine», erinnert sich Walter Neukom zurück. Zum Beschlagen des Pferds ging er mit dem Pferd in die Schmiede. Dort gefiel es ihm so gut, dass er die Rekrutenschule (RS) als Hufschmied absolvierte und in Lenzburg eine Lehre als Huf- und Wagenschmied machte.

Statt Lohn erhalten Geld bezahlt

«Die Ausbildung war etwas einseitig, wir haben keinen einzigen Wagen gebaut, sondern nur Reparaturen ausgeführt.» Um nicht jeden Tag vom Kanton Zürich in den Aargau pendeln zu müssen, bekam er ein Zimmer beim Lehrmeister. Statt Lohn zu erhalten, musste sein Vater für Kost und Logis bezahlen.

«Das war mein erster Beruf, einer von drei», sagt Walter Neukom und erzählt, dass er nur ein Jahr als Huf- und Wagenschmied gearbeitet hat. Danach besuchte er das theologische Seminar in Bettingen und zog dort ins Internat. «Das war die schönste Zeit in meinem Leben», resümiert er. Zehn Jahre lang hat er danach als Prediger in Bauma gearbeitet. Weil verlangt wurde, nach so vielen Jahren den Arbeitsort zu wechseln, und seine Frau nicht wegziehen wollte, suchte er eine neue Arbeitsstelle.

So kam er zu seinem dritten Beruf. Er wechselte ins Büro einer bekannten Versicherungsfirma, wo er bis zu seiner Pensionierung für Grosskunden Policen und Verträge anpasste. «Bürolist zu sein, entspricht nicht meinem Naturell. Doch ich sagte mir, mit etwas muss man ja Geld verdienen.» Und noch etwas anderes habe er bei dieser Arbeit festgestellt, erzählt er am Schluss des Interviews: «Als Bauernsohn hatte ich die Vorstellung, dass alle, die im Büro arbeiten, zehnmal gescheiter sind. Doch wenn ich zurückschaue muss ich sagen, dass es unter ihnen ebenso viele primitive Leute gibt wie unter den Nicht-Akademikern.»

Ganz schlimm in Erinnerung geblieben ist ihm, als ein Arbeitskollege einen anderen beschimpfte, weil er Jude war. «Das hat mir gezeigt, was Propaganda anrichten kann.» Durch seine Redegewandtheit hätte Adolf Hitler auch im Schweizer Dorf viele Sympathisanten gehabt. Er selbst musste während des Zweiten Weltkriegs keinen Aktivdienst leisten, weil die RS der Hufschmiede zweigeteilt war. Damals hatten die Truppen keine Bundespferde, sondern sie mussten von Bauern und Fuhrhaltern zur Verfügung gestellt werden. Weil sie ihre Pferde teilweise ohne marschfähige Hufeisen ablieferten, musste Walter Neukom an manchen Tagen bis zu acht Pferde beschlagen.

Leid und Trost erfahren

Mittlerweile beschäftigt er sich nicht mehr mit Pferden, sondern mit Buchstaben. Mit den beiden Büchern, die 2022 und 2024 erschienen, will er Einblick in sein Leben geben. Und verrät darin auch, welche Menschen Leid verursacht und welche Trost gegeben haben. Zu erster Gruppe gehört eine Kindergärtnerin, die ihn immer wieder blossstellte. «War es einfach eine Genugtuung für die Tante, Macht zu haben über andere?», fragt er im Buch und fügt an, dass er deswegen sehr lange unter Minderwertigkeitsgefühlen litt. Zu den guten Menschen zählt er seine Familie. Walter Neukom hat zwei Söhne, der ältere ist bereits gestorben, und eine Tochter. Seine Frau, von der er geschieden war, starb vor zwei Jahren im Alter von 101 Jahren.

In verschiedenen Gedichten, die er im Buch abgedruckt hat, befasst er sich auch mit dem Tod. Doch bevor es so weit ist, hat er seinen 100. Geburtstag gefeiert. Seine Tochter hat ihm ein Überraschungsfest organisiert. Hat er noch einen Geburtstagswunsch? Nach kurzem Zögern antwortet er: «Einmal mit dem Bernina-Express eine Reise machen.» Wer weiss, ob ihm das noch gegönnt ist, bevor er seine letzte Reise antritt ...

«Nahe am Tod» von Walter Neukom

Ich steh vor der Türe zur Ewigkeit

das Ende meines Erdenlebens naht.

Wer steht im Tod zum Empfang bereit?

Bin ich willkommen mit dem, was ich tat?

Mit wem schreite ich in den nahen Tod?

Wer begleitet mich in das fremde Land?

Bin ich ganz verlassen in Todesnot?

Ist niemand, der mir im Tod reicht die Hand?

Blicke im Tode auf den, der dich liebt!

Auf den, der im Tode den Tod besiegt!

Jesus reicht dir im Tode seine Hand,

dem, der sich im Leben mit ihm verband.

Der Teufel will den Himmel verwehren!

Unsere Schuld stellt er hin vor Gottes Thron.

Jesus ruft alle, die Gott hoch ehren,

der Teufel muss weichen mit grossem Hohn!

Das sagt, der aufschliesst, und niemand schliesst zu,

Jesus hat den Himmel vorbereitet.

Die ihn lieben führt er in die schön’ Ruh,

alle, die er durchs Leben geleitet.

Lebt wohl, die ihr auf der Erde noch bleibt;

Gott weiss, wo und wann wir uns wiedersehn!

Bittet, dass er euch zum Hilfe geleit,

er wird euch von früh bis Ende beistehn.

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