Ein Tropfen auf den Stein, der für sie die Welt bedeutet

Einblick in das Leben von Menschen in Uganda zu erhalten, wurde zu einem Highlight in diesem Jahr. Das mich aber auch immer wieder Überwindung gekostet hat.

Freude herrscht bei diesen Kindern über die        schmutzige Autoscheibe, die zum Schreiben animiert. bär

Freude herrscht bei diesen Kindern über die schmutzige Autoscheibe, die zum Schreiben animiert. bär

Über dem Feuer kochen drei Frauen in diesem    Kochhaus Essen für uns und die Kinder. Melanie Bär

Über dem Feuer kochen drei Frauen in diesem Kochhaus Essen für uns und die Kinder. Melanie Bär

Ich bin ganz ehrlich: Die Reise nach Uganda fühlte sich am Anfang eher nach Komfortzone verlassen denn als tolles Abenteuer an. Als Sybil Müller vom Aargauer Verein «Let the children Uganda» mir zusagte, ich könne sie im Sommer nach Afrika begleiten, kamen plötzlich Zweifel auf: Kann ich damit umgehen, so viel Armut zu sehen? Bringt dieser Tropfen auf den heissen Stein überhaupt etwas? Und im Hinterkopf waren die Bilder der sieben afrikanischen Speikobras, die Sybil Müller mal in ihrem Zimmer hatte und mir grosse Angst einflössten.

Müller ist Vorstandsmitglied und hat vor sechs Jahren für den Verein ein Patenschaftsprogramm aufgezogen. Seither reist sie jedes Jahr auf eigene Kosten mit ihrer erwachsenen Tochter Jaël nach Afrika, um sich zu vergewissern, dass die Hilfe des Schweizer Vereins auch wirklich ankommt. Nach einem Gespräch mit ihr nahm ich meinen Mut zusammen und buchte den Flug ins Abenteuer.

Ein paar Wochen später checke ich mit Daniela Giger am Flughafen Zürich ein. Sie hat den Verein vor zehn Jahren gegründet, nachdem sie zwei Jahre vorher einen Sozialeinsatz in Uganda gemacht hatte und die Menschen langfristig unterstützen wollte. Nach längerer Pause will sie sich wieder ein Bild vor Ort machen. Wir sind beide ein bisschen nervös, als wir kurz vor sieben Uhr morgens ins Flugzeug steigen. Als wir 15 Stunden später in Entebbe das Visum abgeben, hat sich die Nervosität in Vorfreude verwandelt. Daran können auch die bewaffneten Männer des ugandischen Militärs nichts ändern, die im Flughafen herumstehen. Innerlich hatte ich mich auf die nächtliche, knapp dreistündige Fahrt bis zum Hotel in der Nähe von Jinja vorbereitet und bin erstaunt, wie problemlos sie verläuft und wie gut der grösste Teil der Strasse ausgebaut ist. Der Umstand, von bewaffneten Sicherheitswärtern ins abgeriegelte Hotel gelassen und von einem Dutzend bellender Hunde zur Wohnung begleitet zu werden, löst hingegen etwas Unbehagen aus. Ist das nötig? «Reine Vorsichtsmassnahme», erklärt mir der stellvertretende Hotelmanager später.

Und dann bin ich da: Um halb drei Uhr nachts stehe ich auf der Veranda meines vorübergehenden Daheims und sehe direkt auf den Nil. Eine Ruhe breitet sich aus, es ist unglaublich schön hier. Ein Blick unters Bett – nein, es ist keine Schlange hier – lässt mich kurz darauf beruhigt einschlafen.

Keine Bildung für alle

«Muzungu», rufen die Kinder, die immer wieder fröhlich winkend hinter unserem Bus herrennen, wenn wir unterwegs sind. «Weisse» sind hier offensichtlich etwas Besonderes. Als wir ein paar Tage später im Armenviertel Tongolo sind, beginnt ein kleiner Junge zu weinen, als er uns sieht. Ansonsten freuen sich die Menschen, sind offen und herzlich. Fast nie wird meine Bitte abgeschlagen, sie zu fotografieren oder zu filmen. Im Gegenteil. In Mbikko, einem der Slumgebiete, kreischen die Kinder vor Freude, als sie sich selbst im Video tanzen sehen, das ich von ihnen aufgenommen habe.

Die grosse Armut zu sehen, ist jedoch wie erwartet nicht einfach. Die meisten Kinder, die ich treffe, besitzen fast nichts, viele tragen schmutzige und zerlöcherte Kleidung. Sie spielen mit ausgedienten Felgen, funktionieren Stoffreste zu Bällen um oder schreiben mit den Fingern ihre Namen auf staubige Autoscheiben. Wenn sie denn überhaupt schreiben und lesen können. Bei unseren Besuchen in den Slums treffen wir immer auch Kinder, die vom Alter her zur Schule gehen müssten, aber nicht hingehen können, weil das Geld fehlt. «Denn auch wenn an manchen Schulen keine Grundgebühr bezahlt werden muss, entstehen Kosten für Prüfungen, Schulmaterial, Essen und andere Sachen», sagt Kevin Ruzinda, einer der einheimischen Mitarbeiter des Vereins vor Ort. «Wenn das Schulgeld nicht bezahlt ist, wird man heimgeschickt», spricht Patenkind Mariam Kizza aus Erfahrung.

Zu sehen, wie Kinder am Nachmittag im Slum herumlungern, bewegt mich. Ich denke dankbar an das Schweizer Schulsystem und wünschte mir, auch die Kinder hier hätten alle Zugang zu Bildung.

Ein Raum für sieben Kinder und ihre Mutter

An einem anderen Tag bringen wir Nakalema Grace, die Mama Tendo genannt wird, Decken für sich und ihre sieben Kinder vorbei. Ich begleite sie in ihren Wohnraum, der durch den Verein finanziert wird. Und bin schockiert: Er ist rund 20 Quadratmeter gross, ein Vorhang trennt Wohn- und Schlafbereich voneinander. Das Dach ist undicht, manchmal regne es rein. Auf dem Boden liegen ein paar dreckige Matratzen und Tücher, unzählige Insekten fliegen herum. «Schlaft ihr alle hier?», frage ich ungläubig und denke an das Zimmer, das leer steht, seit meine Tochter ausgezogen ist. Es ist genauso gross wie der Raum für diese achtköpfige Familie. Die Mutter nickt und Sybil Müller sagt, ihr vorheriges Daheim sei noch schlimmer gewesen. Das kann und will ich mir nicht vorstellen. Auch Sybil ist sichtlich betroffen und weist einen der Mitarbeiter vor Ort an, zwei dreistöckige Kajütenbetten zu kaufen und bei Mama Tendo aufzustellen. Damit alle einen eigenen Schlafplatz haben.

Mit jedem weiteren Besuch wird mir klar: Mama Tendos Situation ist hier Normalität. Viele haben keinen eigenen Schlafplatz, in vielen Hütten ist es dunkel, feucht und schmutzig. Gerade bei kinderreichen Familien müssen einige auf dem Boden schlafen. «Rund die Hälfte der Bevölkerung ist 15 Jahre alt oder jünger», erklärt mir der stellvertretende Hotelmanager später. Als ich eine gebildete Frau aufs Thema Verhütung anspreche, sagt sie, dass Abtreibung verboten sei und Verhütungsmittel in staatlichen Spitälern kostenlos abgegeben würden. Nachdem ich beobachtet hatte, wie eine Frau im armutsbetroffenen Tongolo selbst dafür bezahlen musste, an einer von einem Unternehmen hingestellten Station Wasser zu beziehen, bin ich nicht sicher, wie stark die Regierung ihre Bevölkerung wirklich unterstützt. Erst recht nicht, nachdem ich mit David gesprochen habe. Er ist in Tongolo am Lake Victoria aufgewachsen, wo Generationen als Fischer ihren Lebensunterhalt verdienten. Mittlerweile sei ihnen das untersagt. Nur wer eine entsprechende Ausrüstung habe und für das ansässige Unternehmen arbeite, dürfe noch fischen. Sybil Müller erzählt, dass sie letztes Jahr Zeuge wurde, wie das Boot eines Fischers zerstört wurde, der am «falschen» Ort fischte. Mittlerweile sei das ganze Areal zur verbotenen Zone erklärt worden, sagt David. Viele Familienväter hätten Frau und Kinder verlassen, weil sie keine Möglichkeit sehen, sie zu ernähren.

Zugang zu Bildung

Ich bin froh, dass ich das Erlebte mit dem Schweizer Team abends im Hotel beim Reden verarbeiten kann. Andererseits verdeutlicht es genau diese Ungerechtigkeit, die ich hier Tag für Tag erlebe: Wir hier im schönen Hotel, sie dort im Slum. Und ja: Was wir tun, ist ein Tropfen auf den heissen Stein. Trotzdem erlebe ich bei jedem Besuch mit, wie gut es ist, dass immerhin diese 108 Patenkinder Zugang zu Bildung, Nahrung und einem Daheim erhalten. Für sie verändert dieser Tropfen die Welt und wer weiss, vielleicht wird ein Teil von ihnen später zu einem Multiplikator.

Um in ihre Welt einzutauchen, musste ich meine Komfortzone verlassen. Doch es hat sich gelohnt. All die Bilder, die schönen und die traurigen, nahm ich mit nach Hause und das Wort Gelassenheit hat eine neue Bedeutung erhalten. Und einer Speikobra bin ich zum Glück nie begegnet.

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