«Literatur schenkt uns Leben»

Autor Usama Al Shahmani liest in der Gemeindebibliothek aus seinem neuen Roman. Ein Gespräch über Heimat und Sprache.

Irakischer Schriftsteller im Schweizer Exil: Usama Al Shahmani. (Bild: Ayse Yavas/zVg)
Irakischer Schriftsteller im Schweizer Exil: Usama Al Shahmani. (Bild: Ayse Yavas/zVg)

Sie sind aus dem Irak in die Schweiz geflüchtet – was hat diese Erfahrung mit Ihrem Konzept von Heimat und Identität gemacht? Ich habe zunächst einmal kein Konzept von Heimat und Identität. Diese beiden Wörter sind komplex und politisch aufgeladen. Sie haben keinen Endpunkt, sondern sie sind in Bewegung. Natürlich macht es etwas mit einem, als Schriftsteller im Exil leben zu müssen, aber meine Konzepte haben sich deswegen nicht im Grundsatz verändert, sondern sie mit Vielseitigkeiten bereichert. Mit Sprachen, Gefühlen, Wahrnehmungen, Perspektiven. Muss man sein Land verlassen, egal aus welchen Gründen, gilt es, die Konzepte Heimat und Identität neu zu entdecken. Das Land zu verlassen, ist nicht nur eine äusserliche Bewegung, sondern auch eine innerliche.

Sie sagen, Sie denken arabisch und schreiben deutsch. Nicht immer! Ich denke beides. Das ist schwer voneinander zu trennen, beides fliesst ineinander. Denken ist ein Labor. Wir denken, wir schreiben, wir reden und wissen gar nicht, welche Stimme dabei mitdenkt. Ich lebe in diesen zwei Sprachen, nicht zwischen diesen zwei Sprachen. Ich kann arabisch denken, deutsch schreiben. Deutsch denken, arabisch schreiben. Beides denken, nicht schreiben. (lacht)

Wie nah oder fern sind sich diese beiden Sprachen? Beide Sprachen sind sehr reich. Beide Sprachen verfügen über eine tiefe Kultur. Logik und Struktur sind aber anders. Manchmal sind sich Arabisch und Deutsch ganz fern. Und doch gibt es Brücken. Zum Beispiel bei den Betonungen. Die Art und Weise, wo und wie wir im Satz etwas betonen, ist genau gleich.

Gibt es Empfindungen, für die Sie in der deutschen Sprache keine Entsprechung finden? Als Literat nutze ich die Sprache als Werkzeug und mit diesem Werkzeug kann ich machen, was ich will. Wenn ich Lyrik schreibe, steht mir alles frei. Literatur kann fast alles. In meinen Büchern finden Sie aber viel von der arabischen Atmosphäre. Als Kritiker beim SRF-Literaturclub haben wir für die neueste Sendung zum Beispiel den Franzosen Mathias Enard gelesen. Dabei ist mir dieses französische Erzählen aufgefallen, bei dem man sich fast stoppen muss, da man sich sonst in einem Fluss verliert. Die Österreicherin Olga Flor wiederum hat in ihrem Roman die Sprache als Figur genommen. An diesen Aspekten sieht man: Eine Sprache ist nicht nur Wörter und Grammatik. Eine Sprache ist eine Seele. Ein Puls. Das Herz einer ganzen Kultur. Wer auf Italienisch schreibt, ist Italiener, auch wenn er muttersprachlich Deutsch spricht. Deshalb bin ich Deutschschweizer Autor, obwohl ein grosser Teil meiner Schriftstellerei arabisch ist. Das heisst, ich schreibe zwar deutsch, aber anders.

Was ist gerade in der aktuell politisch stark aufgeladenen Zeit die Aufgabe der Literatur? Soll sie Empathie schaffen? Die Literatur hat viele Wege. Literatur ist natürlich auch politisch, aber nicht nur. Sie ist eine Bewegung. Ein Versuch, einen Entwurf dieser Welt zu kristallisieren und Gedanken zu ändern. Schreiben ist wichtig, Literatur ist wichtig, Lesen ist wichtig. Das schenkt uns Leben, genau wie es die Musik tut, das Kino oder das Theater. Fehlt das Theater oder das Buch in der Erziehung, fehlt den Kindern viel. Es geht einer Gesellschaft gut, wenn Musik gehört wird, wenn Theater, Konzerte, Kunstausstellungen besucht und Bücher gelesen werden. Sie sind die Ernährung der Seele und Bücher die Nährstoffe.

Usama Al Shahmani liest am 27. Mai um 19.30 Uhr in der Gemeindebibliothek Wettingen aus seinem Roman «Im Fallen lernt die Feder fliegen». Die Lesung ist mittlerweile ausverkauft.

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