In der Fahrstunde mit Grosi und Grosspapi

Um die Fahrkünste von Senioren aufzupeppen, bietet eine lokale Schule ein einmaliges Fahrtraining an. Die Limmatwelle hat es begleitet.

«Ich habe mich <em>sicher und wohl gefühlt. Und viel gelernt», sagt Verena Ryter nach ihrem Fahrtraining. Fahrlehrer Pascal Niederhäuser ist einverstanden. Rahel Bühler</em>
«Ich habe mich <em>sicher und wohl gefühlt. Und viel gelernt», sagt Verena Ryter nach ihrem Fahrtraining. Fahrlehrer Pascal Niederhäuser ist einverstanden. Rahel Bühler</em>

Verena Ryter, grauer Kurzhaarschnitt, blaue Winterjacke, roter Lippenstift, sitzt am Steuer eines weissen VWs. Die 78-jährige Seniorin ist nervös. Ihre letzte Fahrstunde liegt mehrere Jahrzehnte zurück. «Wo ist denn der Zündschlüssel?», fragt sie Fahrlehrer Pascal Niederhäuser. Er schmunzelt. «Das Auto hat keinen Schlüssel», antwortet er und zeigt auf den Startknopf. Normalerweise sind seine Fahrschüler um die 20 Jahre alt. An diesem regnerischen Vormittag aber sind es Senioren. Zusammen mit fünf weiteren Fahrlehrern der Wettinger Fahrschule Star klären sie 20 Senioren über die aktuellen Verkehrsregeln auf. Ryter macht mit, weil sie sich über die Neuerungen bei den Verkehrsregeln informieren will.

Die Fahrschule führt den Anlass zum ersten Mal durch. «Wir wollen der Gesellschaft jedes Jahr etwas zurückgeben», so Niederhäuser. Auf die Idee mit dem Fahrtraining mit Senioren sei er gekommen, weil seine Schwiegermutter, Sissi Dvorsak, für die Pro Senectute Nordic-Walking- und Aquafit-Kurse anbietet. «Ich dachte schon, dass die Idee auf Interesse stossen wird. Mit so vielen Teilnehmenden hätte ich nicht gerechnet», sagt er. Reine Theorie umfasst die zweistündige Lektion nicht. Jeder Senior fährt die gleiche Route, der Fahrlehrer gibt Tipps. Hinten im Auto sitzen andere Senioren.

Wie zum Beispiel die 69-jährige Würenloserin. «Vor den neuen Autos mit der ganzen Technik habe ich grossen Respekt», sagt sie, auf der Rückbank sitzend. Nun stellt Ryter den Rückspiegel, die Seitenspiegel und den Sitz auf ihre Körpergrösse ein. Dann fährt sie los. Die Route führt vom Postparkplatz in Spreitenbach über den Dorfkern nach Killwangen, Neuenhof, Wettingen, Baden und über die Autobahn wieder zurück nach Spreitenbach. «Auf dieser Strecke haben wir alles drin: doppelspurige Kreisel, komplizierte Kreuzungen, unübersichtliche Rechtsvortritte», wird der Fahrlehrer nach der Fahrt sagen. Ryter fährt in eine 30er-Zone in Spreitenbach. Der Fahrlehrer erklärt ihr, wie sie auf die Rechtsvortritte achten muss: Fuss vom Gas, vor die Bremse, gut nach rechts schauen. Ryter fährt in der 30er-Zone stets einige Stundenkilometer zu schnell. An dieses Auto, das einige PS mehr als ihr eigenes aufweist, ist sie sich nicht gewohnt. Niederhäuser warnt: «Hier werden die Bussen dann teuer.»

Im November 2019 analysierte das Bundesamt für Strassen (Astra) im Auftrag der «Sonntagszeitung» die Unfallstatistik von 2018. Ergebnis: Fast täglich verursacht ein älterer Autofahrer einen schweren Unfall in der Schweiz. Meist hätten sie die Verkehrsregeln missachtet oder seien unaufmerksam und abgelenkt gewesen, heisst es im Artikel.

Während der Fahrt gibt Niederhäuser Tipps: «Unser Ziel ist es immer, möglichst wenig anzuhalten, weil das Auto beim Anfahren am meisten Benzin verbraucht. Deshalb müssen wir vorausschauen.» Ihr Mann sage dies auch immer, er sei Busfahrer gewesen, sagt Ryter.

Seit dem 1. Januar 2019 müssen Senioren erst ab 75 Jahren zum Medizincheck, der ihnen erlaubt, weiterhin Auto zu fahren. Vorher waren diese Checks bereits ab 70 Jahren obligatorisch. Nach diesem Entscheid hat der Bund die Internetplattform «Routinier 70 plus» eingerichtet. Dort kann man sich unter anderem Tipps zur Fahrpraxis und zum Fahren unter Einfluss von Medikamenten holen. «Schlechte Witterung und Dunkelheit erschweren die Wahrnehmung. Deshalb Geschwindigkeit anpassen», ist dort nachzulesen. Oder: «Tolerieren heisst Nachsicht üben. Im Strassenverkehr macht jeder hin und wieder Fehler.»

Der TCS, der ACS und der VCS bieten auf dieser Plattform auch Fahrsicherheitskurse an. In solchen Kursen analysieren die Senioren mit dem Instruktor ihren Fahrstil, lernen Fahrassistenzsysteme kennen und üben, das Auto in extremen Situationen zu kontrollieren. Ähnlich wie an diesem Morgen in Spreitenbach. Mit einem Unterschied: Geld verdient die Wettinger Fahrschule an diesem Morgen nicht. Die Senioren können zwar Trinkgeld geben. Die Fahrschule spendet es aber der Kinderkrebshilfe. «Wir machen das für die Gesellschaft», wird Niederhäuser wiederholen.

Mittlerweile sind Ryter, Voser und Niederhäuser in Wettingen angelangt. Dort stellen gerade zwei Polizisten eine Radarfalle auf. Weiter geht es via Landstrasse auf die Autobahn Richtung Zürich. Ryter fädelt sich mühelos in die Fahrbahn ein. Das Gespräch dreht sich um Abstände zwischen zwei Autos. Der 29-jährige Fahrlehrer aus Killwangen bestätigt: Viele Leute drängeln und halten zu wenig Abstand. «Ich finde, man kommt lieber zu spät nach Hause als gar nicht.»

Nach der Autobahnausfahrt Spreitenbach wartet die letzte verkehrstechnische Herausforderung auf Ryter: der doppelspurige Kreisel. Auch diese Aufgabe löst sie souverän. Schliesslich stellt sie den Wagen auf dem Postparkplatz wieder ab. «Ich finde, das war eine gute Fahrt», bilanziert Niederhäuser. Dann nimmt er einen kleinen Ordner hervor und zeigt den beiden Seniorinnen, wie sie sich im doppelspurigen Kreisel verhalten müssen. Auch Ryter ist zufrieden mit ihrer Fahrt: «Ich habe mich sicher und wohl gefühlt. Und viel gelernt.»

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