«Er versteht unsere Welt nicht»

Anna B. hat für über ein Jahr einen syrischen Flüchtling bei sich aufgenommen. Das Zusammenleben gestaltete sich anders als geplant: ein Erfahrungsbericht.

Das Thema Flüchtlinge löst viele Emotionen aus, deshalb möchte Anna B. anonym bleiben. Barbara Scherer
Das Thema Flüchtlinge löst viele Emotionen aus, deshalb möchte Anna B. anonym bleiben. Barbara Scherer

Heller Parkettboden, grosse Fensterfront. In der Mitte des Raumes steht eine Kochinsel. An der Wand hängt ein langes Bild; bis vor einem halben Jahr war dort ein Fernseher installiert. Da, wo das grüne Sofa steht, war ein Bett. Zwei Zimmer, durch einen Vorhang getrennt. Ein kleines Bad mit Dusche. Das ist die Einliegerwohnung im Haus von Anna B.: Hier hat Amir* gewohnt.

«Ich lebe in relativem Luxus, das wollte ich teilen.» Deshalb nahm die Würenloserin im Herbst 2015 Amir bei sich auf. Amir, Anfang zwanzig, aus Damaskus – damals noch kein direkt umkämpftes Gebiet: Amir reiste per Flugzeug an. In der Schweiz hatte er bereits Verwandte, also konnte er bleiben. Eineinhalb Jahre lebte der junge Mann Wand an Wand mit Anna B. Sie hätte gerne jemanden aus dem direkten Kriegsgebiet aufgenommen. «Aber wer bin ich schon, als dass ich über den Grad von Elend entscheiden könnte.»

Ein ganz Braver

Eine Einzelperson, keine Familie, das war ihre einzige Bedingung. Denn von mehreren Personen haben Bekannte ihr abgeraten: zu laut. Anna B. meldete sich bei der Gemeinde. Kurze Zeit später begutachtete der Sozialdienst die Wohnsituation.

Sehr schön. Wer hier landet, könne sich glücklich schätzen, so das Urteil. Dann brachte ein Auto den jungen Syrer vorbei. Ein ganz Braver sei er; anständig, der perfekte Schwiegersohn. Auf die Frage, ob es ihm gefalle, sagte Amir nichts. Amir hat nie viel gesagt.

Mit der Auflage, dass Anna B. den jungen Mann ins Familienleben integriert und mit ihm lernt, zog Amir schliesslich ein. Seine Miete beglich die Gemeinde. «Obwohl ich den Raum gerne gratis gegeben hätte.» Davon riet die Gemeinde aber ab: Die Asylgelder wären sonst niemandem zugutegekommen.

Anna B. freute sich über ihre neue Aufgabe. Amir besuchte die Integrationsklasse in Baden. Danach lernte er mit ihr. Am Abend sass er mit Anna B. und ihren drei erwachsenen Söhnen am Tisch. «Es war ein guter Start.»

Doch schnell wurde alles anders: Amir ass fast nichts. Selber kochen, das gelang nur mithilfe von Anna B. «Er konnte schlichtweg nicht kochen.» Bald nahm Amir nicht mehr am gemeinsamen Abendessen teil. Stattdessen verschwand er immer öfter in seinem Zimmer.

Weder Englisch noch Deutsch

Zusammen lernen, das klappte weiterhin. «Er hatte es auch dringend nötig. In Syrien hatte er nur die Primarschule besucht.» So sprach Amir weder Deutsch noch Englisch. «Die Kommunikation war schwierig.»

Zwei bis drei Stunden lernten die beiden zusammen. Schnell zeigte sich aber, dass Amir das Grundverständnis dafür fehlte. «Er konnte nicht nachvollziehen, wieso man überhaupt liest.»

Von Geografie und Geschichte verstand er nicht viel. Sein Referenzpunkt: der Koran. Jede offene Frage beantwortete er mit der Heiligen Schrift des Islam. Ob er religiös war, das bezweifelt Anna B. jedoch: «Er hat geraucht, getrunken und ging ins Puff.»

Gefiel Amir etwas nicht, so habe er nur gesagt: «Das geht nicht.» Dabei blieb er stets höflich. «Amir erklärte mir einmal, dass Frauen, die kurzärmlige Shirts tragen, ‹Huren› seien.»

Immer öfter bekam Anna B. die kulturellen Unterschiede zu spüren. Amir hatte ein völlig anderes Verständnis der Welt als sie selbst. «Ihm blieb unsere Kultur fremd. Wenn ihm etwas nicht gefiel, hat er sofort abgeblockt.» Amir zu integrieren, wurde zunehmend schwierig.

Trotzdem konnte Amir ein Praktikum als Reifenmechaniker machen. Sein Traum: Automechaniker werden. Schliesslich wurde ihm eine Lehre als Reifenmechaniker angeboten. Anna B. war kritisch. Denn das zweite Jahr an der Integrationsschule wollte Amir nicht mehr machen.

Entgegen ihrer Sorge unterzeichnete Amir den Lehrvertrag. Im Sommer begann seine Lehre. Ohne ausreichende Deutschkenntnisse trat Amir diese an.

«Am Anfang haben wir noch ein paar Fachbegriffe zusammen geübt. Dann wollte er gar nicht mehr.» Zusammen lernen, interessierte Amir nicht mehr. Stattdessen verbrachte er die meiste Zeit mit Bekannten aus der Integrationsschule. Für Anna B. ein Vertragsbruch. «Ich sollte mit ihm lernen und ihn ins Familienleben integrieren: Beides klappte nicht mehr.»

Von der Einliegerwohnung in den Bunker

Also kündete Anna B. dem jungen Mann den Mietvertrag. Nach einer neuen Wohnung suchte er aber nicht. «Er glaubte, jemand anders würde sich darum kümmern.» Schliesslich musste Amir in die Zivilschutzanlage zu den anderen Asylsuchenden ziehen.

«Ich sehe ihn jetzt noch vor mir, wie er mich mit grossen braunen Augen anschaut und hofft, dass ich ihn wieder mitnehme.» Fast hätte Anna B. das auch gemacht. Doch die negativen Erfahrungen überwogen schliesslich. Amir musste dortbleiben.

In der Wohnung von Anna B. hatte er Schäden von 3000 Franken angerichtet: Eine verbrannte Küchenablage, kaputter Parkett, schwarze Matratze und Schimmel. «Meine Herangehensweise an das Ganze war zu naiv. Ich dachte, man kann sich auf einer rein menschlichen Ebene begegnen ohne den kulturellen Überbau.»

Zu gross sei der Graben zwischen dem Leben hier und Amirs Vorstellungen. Böse ist Anna B. dem jungen Mann aber nicht. «Er tut mir leid. Er versteht unsere Welt nicht, ist aber hier.»

Trotz der ernüchternden Bilanz sei die Erfahrung bereichernd gewesen. Anna B. würde auch wieder jemanden bei sich aufnehmen. «Aber dieses Mal würde ich härter auftreten, eine Probezeit verlangen und auf klare Regeln bestehen.»

*Alle Namen von der Redaktion geändert.

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